Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


Скачать книгу

tröstete ich wohl den guten, alten Mann, so gut ich's konnte. Aber mein kindlicher Trost beugte ihn nur tiefer. Er ward kränklicher und ahnte die Annäherung seiner letzten Tage. Oft sah er mich gerührt an, mit Besorgnis um meine Zukunft; und die bittere Thräne der Hoffnungslosigkeit netzte seine Augen. Ich verließ, wenn ich's sah, mein Spiel. Ich sprang zu ihm hinan, denn ich konnt' es nicht ertragen, ihn weinen zu sehen. Ich umklammerte seinen Hals, küßte ihm die Thränen von den Wimpern und rief schluchzend: O! mein Vater, weine doch nicht!

      Ich war achtzehn Jahre alt, da starb mein Vater. Es war ein heiterer Abend, die Sonne nahe dem Untergange. Mein Vater saß vor der Hütte im Schatten eines Kastanienbaumes. Er wollte noch einmal den Anblick einer Welt genießen, die ihm trotz aller Leiden lieb geworden war. Ich kam vom Felde. Er war sehr matt. Ich ging zu ihm. Er schloß mich in seine Arme. O mein Sohn! sagte er, jetzt ist mir wohl. Mein Feierabend kommt, ich gehe zur Ruhe. Doch werde ich Dich nicht vergessen. Ich werde mit Deiner Mutter vor Gott stehen; wir wollen über den Sternen für Dich beten. Denk an uns und sei der Tugend treu bis in den Tod! wir wollen für Dich beten. Gott sorget für Dich. Und weine nicht! Denn hast Du einst Dein Tagewerk beendet, so wird auch Deine Feierstunde schlagen. Dann findest Du uns, mich und Deine Mutter droben wieder. Ach! Colas, wie sehnsuchtsvoll wollen wir Dich dort erwarten und wie wohl wird uns sein, wenn die drei seligen Herzen der Eltern und des Kindes vor Gottes Thron aneinander schlagen!

      Der letzte Sonnenstrahl erblich an den Gebirgsgipfeln; die Erde versank in Dämmerungsschein. Der Geist meines Vaters war von der gebrechlichen Hülle des Körpers frei. Die teuern Überreste desselben lagen in meinen Armen.

      2.

       Inhaltsverzeichnis

      Der treue Knecht – sein Name ist mir entfallen – welcher mich zu Etienne, meiner Mutter Bruder in Nismes, nach dem letzten Willen meines Vaters bringen sollte, hielt mich an der Hand, als wir durch die dunkeln, engen Straßen der Stadt Nismes gingen. Ich zitterte. Ein unwillkürlicher Schauder faßte meine Seele.

      »Du bebst, Colas?« sagte der Knecht. »Du siehst blaß und finster aus. Ist Dir nicht wohl?«

      »Ach,« rief ich, »bringe mich nicht hierher in dieses schwarze Gefängnis. Mir ist so bange, als sollte ich hier sterben. Laß mich tagelöhnern in der grünen, freien Heimat! Sieh' doch diese Mauern: sie sehen wie Kerkerwände aus. Und diese Menschen! Sie sind so unstät, so düster, als wären sie Verbrecher!«

      »Dein Oheim, der Müller,« antwortete er, »wohnt nicht innerhalb der Stadt; sein Haus ist vor dem Karmeliterthore, im Freien und Grünen.«

      Vor dem Karmeliterthor war das Haus meines Oheims und daneben seine Mühle. Der Knecht wies mit der Hand auf das artige Gebäude, und sprach: »Herr Etienne ist ein reicher Mann, aber leider . . .«

      »Was denn leider?«

      »Ein Calvinist, wie die Leute sagen.«

      Ich verstand ihn nicht. Wir traten in das schöne Gebäude. Meine Angst verging beim Eintritt. Ein stiller, liebreicher Geist sprach mich aus allem an, was ich erblickte, und mir ward wohl wie in der Heimat. In dem saubern Zimmer voll Einfachheit und Ordnung saß die Mutter, mit häuslicher Arbeit beschäftigt, am Tische, umgeben von drei blühenden Töchtern. Ein zweijähriger Knabe saß spielend auf dem Schooße der Mutter. Güte und Ruhe wohnten in jedem Angesicht. Sie schwiegen alle und schlugen die Augen zu mir auf. Mein Oheim stand am Fenster und las in einem Buche. Schon waren seine Locken grau, eine jugendliche Heiterkeit aber glänzte aus seinen Blicken. Seine Mienen waren die der Frömmigkeit.

      Der Knecht sprach zu ihm: »Dieser ist Euer Neffe Colas, Herr Etienne! Sein Vater, Euer Schwestermann, ist in Armut gestorben und befahl mir, Euch seinen Sohn zu bringen, daß Ihr sein Vater sein möget.«

      »Sei mir willkommen und gesegnet, Colas!« sagte Herr Etienne, indem er seine Hand auf mein Haupt legte. »Ich will Dein Vater sein!«

      Dann stand die Frau auf, reichte mir die Hand und sprach: »Ich will Deine Mutter sein!«

      Diese Güte bewegte mein Herz Ich weinte und küßte die Hand des neuen Vaters und der neuen Mutter, ohne ein Wort sprechen zu können. Da umringten mich die drei Töchter und sagten: »Weine nicht, Colas, wir sind Deine Schwestern.«

      Von dieser Stunde an war ich wie eingewohnt in der neuen Heimat, als wär' ich nie Fremdling drin gewesen. Ich glaubte in einer Familie stiller Engel zu wohnen, von denen mir oft mein Vater erzählt hatte. Ich ward so fromm wie sie alle, doch nie der Frömmste.

      Ich wurde zur Schule angehalten. Nach einem halben Jahr trat Herr Etienne zu mir und sagte mit freundlichem Blick: Colas, Du bist arm, aber Gott hat Dich mit schönen Anlagen gesegnet! Deine Lehrer rühmen mir Deinen Fleiß und sagen, daß Du Deine Mitschüler alle an Kenntnissen wunderbar übertriffst. Darum habe ich beschlossen, Du sollst den Wissenschaften obliegen, und ein Gelehrter werden. Hast Du in Nismes Deine Lehrjahre vollbracht, so sende ich Dich auf die hohe Schule zu Montpellier. Du sollst die Rechte studieren, dann kannst Du ein Verteidiger unserer unterdrückten Kirche werden. Ich sehe in Dir ein Werkzeug Gottes zu unserer Rettung, und zur Beschirmung des evangelischen Glaubens gegen die Grausamkeit und Gewalt der Papisten.

      Herr Etienne war ein heimlicher Protestant, wie mit ihm einige Tausend in Nismes und in den umliegenden Gegenden. Er weihte mich in seinen Glauben ein. Die Protestanten waren arbeitsame, ruhige, wohltätige Bürger, aber der Groll des Volkes und die Wut der Mönche verfolgten die Unglücklichen bis in das Innerste ihrer Wohnungen. Sie lebten in ewiger Furcht, doch diese unterhielt das Feuer der Frömmigkeit um so reger in aller Herzen. Gezwungen und zum Schein besuchten wir die Kirchen der Katholiken, feierten ihre Festtage und hatten die Bilder ihrer Heiligen in unsern Zimmern. Allein weder diese Nachgiebigkeit, noch die werktätige Frömmigkeit der Verfolgten söhnte den Haß ihrer Verfolger aus.

      Schwebend zwischen zweierlei Kirchen, deren eine ich öffentlich, die andere heimlich bekennen mußte, alltäglicher Zeuge des herben Gezänks beider Parteien, und davon, wie Stolz und Haß und Eigennutz mehr als Einsicht und Frömmigkeit unter den Fahnen der kriegenden Kirchen standen, ward ich, ohne es zu wissen, Heuchler und Zweifler an beiden. Die Gründe, mit welchen jede die streitigen Glaubenslehren der anderen angriff, waren durchdachter, feiner und wirksamer, als diejenigen, mit welchen man den angefochtenen Wert verteidigte. Dies erweckte in mir einen Argwohn gegen alle Glaubenssätze, nur die nie angefochtenen behielten mir bleibenden Wert. Doch verbarg ich mein Inneres allen, um nicht allen ein Greuel zu sein.

      So vereinsamte mein Geist früh. In geschäftslosen Stunden war Gott und seine Schöpfung der Gegenstand meiner Betrachtung. Der Wahnsinn der Menschen, mit welchem sie sich um der wechselnden Meinungen willen verfolgten, oder wegen eines Titels ihrer Fürsten bekriegten, war mir schauerlich. Im Alter der blühenden Einbildungskraft konnte ich nicht umhin, mir eine schönere Welt zu schaffen, in welcher Tugend, Recht und Wahrheit sich umarmten, und die Sinnlichkeit ihre lieblichsten Gefühle hinüberpflanzte.

      3.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Ruinen des ungeheuren Amphitheaters zu Nismes, des alten prächtigen Denkmals der Römergröße, waren mein Lieblingsaufenthalt. Hier weilte ich gern, aber nie ohne Wehmut.

      Das Hilfeschrei eines weiblichen Geschöpfes hier unter den Schwibbogen schreckte mich eines Abends aus meinen Träumen auf. Es dämmerte bereits in den Hallen. Ich eilte aus dem zweiten Geschoß die Stufen hinunter, und erblickte ein wohlgekleidetes Frauenzimmer in der Gewalt eines gemeinen Kerls. Der Schall meiner Fußtritte verscheuchte den Verbrecher. Er verschwand zwischen den Säulen. Ein junges Mädchen mit zerzaustem Haar saß bebend und außer sich auf einem Marmorblock.

      »Ist Ihnen ein Leid angethan?« fragte ich.

      Sie betastete ihren Kopf. »Es war ein Räuber, mein Herr; er hat mir den Haarschmuck entrissen,