Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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und Schwester. Sie erwarten mich draußen. Der Mensch sollte mich aus diesen weiten Irrgärten zurückführen, und er führte mich in diese entlegene Gegend.«

      Ich bot ihr meinen Arm. Wir traten ans Licht. O Klementine! . . .

      Sie war eine Blüte von sechzehn Jahren, zart und schön aufgewachsen. Sie schwebte neben mir wie ein Luftbild. Das Liebliche, Frische, Geistige ihres Angesichts war engelhaft, und ihr Blick voller Unschuld und Liebe drang in das Innerste meiner Seele.

      Ich versank in eine angenehme Verwirrung. Nie hatte ich solch ein Gefühl von Bewunderung und Zutrauen, von unaussprechlicher Neigung und Ehrfurcht empfunden. Obgleich einundzwanzig Jahre alt, kannte ich die Liebe nur aus den Gemälden alter Dichter, und nannte sie eine des Mannes unwürdige leidenschaftliche Freundschaft. Ach, sie ist wohl etwas anderes. Liebe ist die Poesie der menschlichen Natur. Das Gefühl der Schönheit veredelt die rohe Sinnlichkeit und erhebt sie zum Berühren des Geistigen; und der tugendhafteste, selbständige Geist vermählt sich unter dem Zauberhauch der Anmut dem Irdischen. So ists wahr, daß die Liebe den Staub vergöttlicht und das Himmlische auf die Erde herableitet.

      »Sie sind fremd?« stammelte ich.

      »Freilich,« antwortete sie, »aber es ist vergebens, daß wir Mutter und Schwester suchen! Wissen Sie das Haus des Herrn Albertas? Dort wohnen wir.«

      Ich führte sie dahin. Wir kamen zum Hause. Man öffnete freudig die Pforte. Die ganze Familie drängte sich herbei, die geliebte Verlorne zu bewillkommnen, welche durch ausgeschickte Diener noch jetzt gesucht ward. Da vernahm ich unter den tausend Liebkosungen den Namen Klementine. Sie dankte mir mit wenigen Worten unter Erröten; desgleichen thaten alle. Ich aber konnte nichts erwidern. Man fragte nach meinem Namen; ich nannte ihn, verbeugte mich und verließ die Gesellschaft.

      4.

       Inhaltsverzeichnis

      Oft war ich im Amphitheater, oft führte mich der Weg durch die Straße von Albertas' Hause. Ich sah sie nicht wieder. Ihr Bild schwebte vor mir, ich irrte umher in meinen Träumen. Ich verlor alle Hoffnung, die schöne Erscheinung je wieder zu sehen, aber nicht meine Sehnsucht.

      Die Zeit erschien, daß ich auf die hohe Schule nach Montpellier gesandt werden sollte. Herr Etienne wiederholte mir seine Wünsche, und beschwor mich, seine Erwartungen nicht zu täuschen. Im Übermaß seines Vertrauens zu meinen jungen Kräften, sah er in mir den künftigen Schutzengel der protestantischen Kirche Frankreichs. Er segnete mich. Die ganze Familie stand beim Abschiede weinend um mich her. Ich versprach, in allen Ferien nach Nismes zu kommen, und ging, vom Schmerz überwältigt, fort.

      Von Nismes bis Montpellier sind acht volle Stunden. Ich wandelte im Schatten der Maulbeerbäume zwischen goldenen Saaten und lachenden Weinbergen die Hügelkette entlang, über welche sich die grauen Sevennen erheben. Aber die Luft glühte und der Boden brannte unter mir. Nach drei Stunden sank ich am Ufer der Vidourle, im Statten eines reinlichen Landhauses und seiner Kastanienbäume, ermüdet nieder.

      Ich sann über meine Vergangenheit und meine Zukunft. Ich berechnete, wie lange ich gelebt hatte, und welch ein Zeitraum mir noch, dem gewöhnlichen Maße nach, zu leben übrig bliebe. Ich fand noch vierzig Jahre, und schauderte zum erstenmale vor der Kürze unserer Tage. Die Eiche bedarf zu ihrer Entwicklung eines Jahrhunderts, und steht in ihrer Kraft noch ein zweites. Und des Menschen Sein so flüchtig! Und warum? Wohin soll er mit der Menge seiner Anlagen? Nicht ein langes, aber ein reiches Leben ist dem Sterblichen von der Natur verliehen. Der Gedanke beruhigte mich. Nun denn, dachte ich, vier Jahrzehnte, und dann stehst du, Vollendeter, wo dein Vater steht.

      Allmählich entschlummerte ich so über diesen Gedanken. Im Traume war ich Greis, mein Gebein schwerer, mein Haar ergraut. Die tausend feinen Öffnungen des äußern Körpers, durch welche er unmerklich Lebenskraft einsaugt und sich von den Elementen nährt, waren schadhaft geworden. Mit dem verschwindenden Zufluß des Lebensstoffes erlahmte die Kraft der Muskeln, und erhärteten und verschlossen sich die zarten Teile allgemach, welche wir seine Werkzeuge heißen. Ich hörte nicht mehr, und bald erlosch auch mein Auge. Indem also die Sinne abstarben, mit welchen der Geist im Irdischen wurzelt, wurden die Gefühle schwächer, alle Vorstellungen matter, und alles, was durch die sonst so geschäftigen Sinne dem Geist zugeführt war, verlor sich. Ich hatte meinen Körper nicht mehr in vollkommener Gewalt, und vergaß die Namen der Dinge und ihren Gebrauch. Menschen fütterten mich und kleideten mich an und aus, und thaten mit mir, wie man mit Kindern thut. Ich konnte noch sprechen, aber die Worte waren mir oft entfallen und ich führte zuweilen Reden. die niemand verstand. Doch dachte ich, und fühlte, wenn gleich ohne allen Harm, daß ich der Erde nicht mehr angehöre. Bald aber dachte ich auch nicht mehr in Worten; sondern mein Sein war nur ein starres, stilles, sich gleichbleibendes Gefühl. Dies Sein, ewig Einerlei, mit gänzlicher Abwesenheit von etwas Äußerem, war ohne Wohl und ohne Weh; es war in ihm kein Wechsel des Gedankens, daher keine Folgen und keine Zeit mehr. Genug, ich war schon längst gestorben, mein Leichnam schon längst begraben und seit Jahrhunderten verweset. Nur auf Erden, wo wir die Veränderungen der Dinge zählen, sind Jahrhunderte, und das Gefolge der Ereignisse verursacht in uns die Vorstellung von Zeiten. Abgeschieden von allem Wechsel, ist im Sein keine Zeit vorhanden.

      Eine angenehme dunkle Empfindung machte sich nun in mir geltend. Mein bisher vereinsamter Geist ward mit neuen Werkzeugen verbunden, um im Weltall auf's Weltall wirksam zu sein. Ich empfand immer deutlicher, und hörte ein mildes Säuseln, und fühlte eine liebliche Frische mich umströmen Vor mir schwammen goldene, blendende Strahlen und Silbergewölke gaukelten dahin. Ich senkte den verwunderten Blick in das leuchtende, durchsichtige Grün mich umschwebender Zweige, die wie gefärbte Luft im krystallklaren Äther flossen. Und zwischen den Zweigen und Wolken schimmerte Klementine bewegungslos, mit einem Kranze von jungen Blumen ums dunkle Haar, in namenloser Schönheit vor mir.

      Sie lächelte mich an. So lächelt nur die Liebe in ihrer Unschuld. Sie nahm den Kranz aus den Locken, und schwang ihn mit der zarten Hand und der Kranz sank auf meine Brust. O du himmlischer Traum, verlaß mich nicht! dachte ich und starrte mit namenlosem Entzücken die schöne Gestalt an. Indem rollte es, wie ein Wagen, herbei. Klementinens Antlitz verfinsterte sich. Man rief ihren Namen. »Leben Sie wohl, Alamontade!« sagte sie und verschwand unter den bebenden Zweigen. In demselben Augenblick wollte ich zu ihren Füßen sinken. Aber ich lag auf dem Erdboden. Ich träumte nicht, denn ich erkannte die Vidourle und das von hohen Kastanien umschattete Landhaus.

      Ich richtete mich auf. Ein Wagen donnerte über die Brücke. Ich eilte dahin. Ein alter Diener kam mir entgegen, und fragte, ob ich Erfrischung verlange? Ich bezeugte ihm meine Verwunderung. »Sind Sie nicht Herr Alamontade?« sagte er. Ich bejahte es. »Nun, Fräulein de Sonnes und ihre Frau Mutter haben mir den Befehl hinterlassen!« erwiderte er. Ich ging zurück, nahm Klementinens Kranz vom Boden auf und folgte dem Diener. Klementine war das Fräulein de Sonnes.

      Dieser Tag war einer der unvergeßlich schönen meines Lebens.

      5.

       Inhaltsverzeichnis

      Ein Dachstübchen im Hinterhause eines der reichsten und glücklichsten Bewohner von Montpellier, des Herrn Bertollon, ward meine Wohnung. Einige Dächer, schwarze Mauern, und zwei Fenster nebst Balkon eines gegenüber stehenden Hauses waren meine dürftige Aussicht. Dennoch war ich glücklich. Umringt von meinen Büchern lebte ich nur den Wissenschaften; Klementinens Kranz hing über meinem Schreibtische. Des Frühlings Blüten-Millionen verloren ihren Glanz neben dem Zauber dieser verwelkten Blumen, und die Juwelen der Könige wogen mir nicht den Wert des leichtesten Citronenblättchens auf.

      Klementine war meine Heilige. Ich liebte sie mit einer frommen Ehrfurcht, wie man überirdische Wesen lieben kann. Der hängende Kranz war ein Kleinod, das mir der Engel vom Himmel herab zugeworfen hatte. Ich sah sie im Glanze der Verklärung durch meine Träume schweben. Ihr Name tönte im meinen Liedern. Ich erwartete mit Beben und Sehnsucht die Ferien der hohen Schule, um