Armand

Carl Scharnhorst: Abenteuer eines deutschen Knaben in Amerika


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damit er sie im Auge behalten könne, und als sie bei ihm vorüber kamen, ermahnte er sie zur Vorsicht auf diesem gefährlichen Wege. Carl Scharnhorst schritt voran, indem er dem Hund pfiff, der soeben einen Hasen aufgejagt hatte und, ohne auf den Pfiff zu hören, denselben verfolgte. Hinter Carl ging Julie, dann kam Arnold, darauf Wilhelm, und Herr Turner, mit seiner Gattin vor sich, beschloß den Zug. Die schmalste Stelle des Pfades war erreicht, als plötzlich Pluto, um zu Carl zu gelangen, in vollem Lauf bei Herrn und Madame Turner vorübersauste, und im Vorbeirennen an Arnold, diesen so heftig zur Seite stieß, daß der Knabe von dem Pfade herabstürzte und an dem steilen Berge hinunterrollte. Mit einem Schrei des Entsetzens sahen die Eltern, wie der Knabe sich vergebens bemühte, seinem Hinabrollen Einhalt zu thun; es war umsonst, das lose Gestein rollte mit ihm, und schon hatte er die Hälfte des Abhanges, der zu dem senkrechten Abgrunde führte, erreicht, als Carl sich pfeilschnell hinter ihm herstürzte, ihn mit seinen Armen umklammerte, und alle seine Kräfte aufbot, ihn in dem furchtbaren Lauf aufzuhalten. Umsonst – Beide rollten weiter dem unvermeidlichen Tode entgegen. Carl hielt aber seinen Kameraden fest umschlossen, und lenkte nur mit den Füßen seinen Weg einem einzelnen Baume zu, der am Ende des Abhanges stand und über die gähnende Tiefe hinabhing. Wie vom Tode erfaßt und in Verzweiflung erstarrt, sahen die Eltern händeringend den beiden Knaben nach, wie dieselben dem äußersten Rande des Abgrundes immer näher kamen und das lose Gestein um sie her ihnen voran in die bodenlose Tiefe rollte. Noch lagen nur wenige Schritte zwischen den Knaben und dem äußersten Felsrand, als Carl, seinen Kameraden im Arm, sich mit den letzten Kräften nochmals dem Baume zustieß, und an dessen Stamm über dem Abgrunde hängen blieb. Mit einem Arm hielt er den ohnmächtigen Arnold umschlossen, und mit dem andern stützte er sich an den Baumstamm, der ihn von dem Sturz in die Tiefe zurückhielt.

      »Halt fest, Carl, halt fest, Gott der Allmächtige wird Dir Kräfte verleihen!« schrie Turner, indem er seine Gattin aus seinen Armen sinken ließ und seine bebenden Hände den Knaben entgegenstreckte.

      »Halt fest, Carl, um Gotteswillen, halt fest, ich hole Hülfe, ich bin bald zurück!« schrie Turner noch einmal mit verzweifelter, mit rasender Angst, und stürzte dann in fliegendem Laufe an den Felsen hin, um von der Kluse her Hülfe zu holen.

      Madame Turner lag händeringend auf ihren Knieen und flehte laut zum Himmel auf, daß Gott Barmherzigkeit haben und Rettung senden möge, und Julie und Wilhelm klammerten sich weinend und jammernd an die bebende Mutter und hielten zitternd ihre Blicke auf die beiden Knaben geheftet. Carl hielt den geliebten Halbbruder fest an sein Herz gepreßt, und suchte vorsichtig nach und nach seinen Sitz zu verbessern, um länger darin aushalten zu können; denn seitwärts von dem Stamme, an dem er saß, blickte er in die schwindelnde Tiefe hinunter, wo sein Auge keinen Gegenstand mehr erkennen konnte. Seine Kräfte, die er bei der übernatürlichen Anstrengung während des Rollens bis an den Baum aufgewandt hatte, kehrten zurück, und er fühlte sich stark genug, sich hier zu erhalten, bis sein Onkel ihm Hülfe bringen würde. Alle seine Besorgniß richtete sich jetzt nur noch auf das Erwachen Arnolds und auf dessen Bewegungen; denn die mindeste Biegung aus dem Gleichgewicht mußte sie beide in den Abgrund stürzen. Jetzt regte sich Arnold, er strich sich mit der Hand über das Gesicht, und wollte sich erheben.

      »Rühre Dich nicht, Arnold, oder wir sind Beide verloren, bewege Dich nicht und sieh Dich nicht um, verlaß Dich auf mich, ich halte Dich!« rief ihm Carl in die Ohren, und zog seinen Arm fester um ihn.

      »Carl, wo sind wir denn?« fragte Arnold jetzt, indem er die Augen aufschlug und in den Abgrund blickte. »Ach Gott, wir fallen hinunter!« setzte er halblaut hinzu, und begann am ganzen Körper zu zittern. »Bewege Dich nur nicht, Arnold, ich halte Dich, der Vater wird gleich zurückkommen und uns helfen. Schließe die Augen und bleibe ruhig so liegen, ich kann Dich so ganz gut halten und wenn es noch so lange dauern sollte!«

      Von drehendem Schwindel ergriffen, schloß Arnold bebend und zitternd die Augen, und klammerte sich krampfhaft an Carl fest, der jetzt selbst vermied, seitwärts in die Tiefe zu schauen, da er fühlte, wie ihn dabei eine unüberwindliche Machtlosigkeit durchrieselte. Er hielt seinen Blick hinauf nach der jammernden Mutter Arnolds gerichtet, und wandte sich mit seiner Seele vertrauungsvoll zu Gott, der ihm ja beigestanden hatte, den Baum zu erreichen.

      Unbeweglich saß er über der bodenlosen Tiefe, doch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, daß der Baum seinem Druck nachgeben, und mit ihm und Arnold hinunterstürzen würde. Mit krampfhafter Spannung horchte er auf jeden Ton, um die nahenden, Rettung bringenden Fußtritte Turners zu erkennen; eine Ewigkeit schien an ihm vorüberzuziehen, er fühlte, wie seine Füße in der gezwungenen Lage erstarrten, und doch durfte er diese nicht wechseln, wollte er nicht das Gleichgewicht verlieren. Ueber eine halbe Stunde war schon verstrichen und noch war keine Hülfe erschienen. »Liege ganz ruhig, Arnold,« sagte Carl jetzt zu diesem mit entschlossener Stimme, »ich muß meinen Fuß unter Dir hervorziehen, ich kann es unmöglich länger in dieser Lage aushalten.« Dabei befreite er seinen linken Arm von seinem Halbbruder, faßte mit beiden Händen den Stamm hinter sich, und hob sich vorsichtig mit aller Kraft langsam etwas empor, indem er seinen Fuß unter Arnold herauszog und über den Abhang hinunterhängen ließ.

      »So, Gottlob, nun ist es gut, nun kann ich es wieder aushalten!« sagte er, und legte seinen Arm abermals um Arnold. Da schallte die Stimme Turners von weit her durch die Berge, als fordere sie Carl zur letzten Kraftanstrengung auf.

      »Der Vater kommt,« sagte dieser zu dem bebenden Gefährten, »nun werden wir gerettet. Rühre Dich nur nicht, Arnold!«

      Wenige Minuten später erschien Turner auch wirklich auf dem Pfade, und stürmte mit einer Steinhacke auf der Schulter zu dem verhängnißvollen Platze heran. Er kam aber nicht allein, sämmtliche Knechte waren ihm von der Kluse hierher gefolgt, und trugen schwere Taue herbei, die zur Rettung der Knaben gebraucht werden sollten. In aller Eile wurden diese einzelnen sehr langen Stricke aneinander gebunden, Turner ließ sich das eine Ende um die Brust befestigen, und stieg nun, mit der Steinhacke in der Hand, an dem Abhang hinunter, indem die Knechte auf der Höhe zurückblieben und das Seil hielten. Sie ließen dasselbe nur langsam nachfolgen, während Turner auf seinem abschüssigen Wege mit der Hacke Stufen in das lose Gestein hieb und eine Art von Treppe erzeugte, die ihm den Rückweg nach der Höhe erleichtern sollte. Dabei redete er mit erzwungen ruhiger Stimme, bald zu Carl, bald zu Arnold, ermahnte sie, nur still und unbeweglich zu sitzen, und nicht in die Tiefe zu blicken. Schritt für Schritt stieg er weiter hinab, während das Gestein, welches er vor sich loshieb, über den Abhang hinunter rollte, und so erreichte er endlich schweißtriefend und erschöpft die beiden Knaben.

      »Der Allmächtige sei gelobt und gepriesen!« rief er in höchster Seligkeit mit bebender Stimme aus, als er Arnold mit beiden Händen krampfhaft erfaßte, ihn Carl aus den Armen nahm und ihn auf die nächste Stufe über sich hob.

      »Sitze ruhig, Carl, bester Carl, gleich kehre ich zu Dir zurück; rühre Dich nicht,« sagte er zu diesem, und ließ Arnold nun die steile Höhe vor sich erklimmen, wobei er ihn von Stufe zu Stufe hob, und die Diener auf der Höhe das Tau wieder an sich ziehen mußten. In ihren zitternden Armen empfing die Mutter ihr Kind an ihrem Herzen, und Turner eilte, ohne einen Augenblick zu verlieren, abermals auf den Stufen hinab, um nun auch Carl dem furchtbaren Abgrunde zu entreißen.

      »Mein Carl, Du Retter meines Lebensglücks, komm an mein Herz, an das Herz Deines dankbaren zweiten Vaters!« rief der überglückliche Mann, indem er den Knaben von dem Baume wegzog und ihn vor sich auf die Stufe hob.

      Bald hatten sie die Höhe erstiegen und Madame Turner zog den Knaben mit freudigem Beben von der letzten Stufe zu sich herauf.

      »Carl, mein geliebter Carl, Du Retter meines Kindes, wie soll ich es Dir im Leben danken!« stammelte sie in ihrem Glück, indem sie Carl mit ihren Liebkosungen überhäufte. Von ihr aber ging er aus einer Umarmung in die andere, bis Turner auf seine Kniee sank, um dem Allmächtigen für die Gnade, für die Barmherzigkeit zu danken, die er ihm in so wunderbarer Weise hatte angedeihen lassen. Alle Gegenwärtigen wandten, tief ergriffen, ihre Herzen zu Gott und stimmten in das laute Dankgebet Turners mit ein. Dann aber eilten sie von dem Schreckensplatze hinweg, ohne sich nochmals nach dem Abgrunde umzusehen.

      Als