gehen, aber in dem Tischgebete sandten sie nochmals ihren herzinnigen, heißen Dank für die wunderbare Rettung der beiden Knaben zum Himmel auf. Die Liebe, welcher sich Carl Scharnhorst bisher in der Familie Turner zu erfreuen gehabt hatte, war eine noch viel innigere geworden, sie hatte in der Dankbarkeit noch eine neue Grundlage gefunden, und die Eltern sowohl, wie die Kinder fühlten sich mit unlöslichen Herzensbanden an den braven Knaben gefesselt. Aber noch ein anderes Gefühl war in ihnen für Carl erwacht, welches seine aufopfernde Anhänglichkeit, seine Unerschrockenheit, seine Entschlossenheit hervorgerufen hatte; es war das Gefühl der Achtung. Während man bisher nur den liebevollen, treuherzigen, dankbaren Knaben in ihm gesehen, erkannte man jetzt in ihm ein Glied der Familie, dessen Persönlichkeit noch eine andere Bedeutung hatte, als die eines geliebten Kindes.
Von dem Augenblick an, wo der erste Freudenrausch über die Rettung Arnolds verwogt war, behandelte Turner sowohl, wie seine Gattin, Carl Scharnhorst unwillkürlich anders, als früher: in Wort und Handlung gebrauchten sie, ohne es zu wollen, mehr die Rücksichten, die man einem Freunde zollt, als die, welche man dem Pflegekinde angedeihen läßt; er war mit einem Worte in ihrem Gefühle plötzlich nicht mehr der Knabe, sondern der befreundete, edle Jüngling, wenn auch seine ganze Erscheinung noch die des Kindes war. Auch die Dienerschaft, die Knechte und Mägde aus der Kluse, begegneten ihm mit einer Ehrerbietung, mit einer Achtung, die man einem Knaben sonst nicht zollt, und wo er sich sehen ließ, kam man ihm mit ehrender Auszeichnung entgegen und pries und rühmte seine edle That. Carl sah nichts weiter in der Aufmerksamkeit, als die Freude über die Rettung Arnolds, an der er ja selbst von ganzem Herzen Theil nahm; doch kam es ihm gar nicht dabei in den Sinn, daß er etwas so Ungewöhnliches gethan habe. Er glaubte, nur so gehandelt zu haben, wie es jeder Mensch zu thun verpflichtet sei und wie er selbst gar nicht anders gekonnt hätte.
Am folgenden Morgen rüstete man sich auf der Kluse zeitig, um sich nach dem Städtchen zur Kirche zu begeben. Der leichte, mit drei Sitzen versehene Korbwagen hielt vor der Hausthür, so wie auch der gesattelte Rappe, den Herr Turner bei solchen Gelegenheiten stets zu reiten pflegte. Madame Turner trat mit ihren Kindern und mit Carl aus dem Hause, um den Wagen zu besteigen, als Herr Turner, der bei dem Rappen stand, Carl zu sich winkte und sagte:
»Carl, Du sollst heute den Rappen reiten, und ich will statt Deiner fahren; ich weiß, es macht Dir Freude, und bei der ersten Gelegenheit, die sich nur bietet, werde ich Dir ein Pferd kaufen, welches ganz Dein Eigenthum sein soll. Komm, ich habe die Bügel schon für Dich verkürzt.«
Carls Blick strahlte vor Wonne; denn wenn er auch schon oft den Rappen in der Nähe der Kluse geritten hatte, so war er doch niemals zu Pferde in der Stadt erschienen, und dies zu thun, machte ihm eine besonders große Freude.
»Aber, bester Onkel, reitest Du nicht lieber, als Du Dich in den Wagen setzest? Du zogest es sonst doch immer vor,« sagte Carl bescheiden und zögernd.
»Nein, nein, heute fahre ich lieber; steige nur auf. Wenn Du in die Stadt kommst, so reite nach dem Gasthofe und lasse das Pferd in den Stall bringen, der Stallbursch weiß schon, was er für dasselbe zu thun hat. Sage ihm nur, daß Du nach der Kirche wiederkommen würdest, um nach Hause zu reiten.«
Bei diesen Worten gab Turner die Zügel an Carl, dieser schwang sich mit hochschlagendem Herzen in den Sattel, winkte Allen noch einen Gruß zu, und trabte in höchster Lust davon, während Turner sich zu seiner Gattin und seinen Kindern in den Wagen setzte. Der Weg war bald zurückgelegt, und als in der Nähe der Kirche der Wagen anhielt und Turners ausstiegen, kamen von allen Seiten Freunde und Bekannte herbeigeeilt, um ihnen ihre Glückwünsche zu der wunderbaren Rettung des Knaben darzubringen; denn die Nachricht davon hatte sich bereits durch das Städtchen verbreitet. Es war noch nicht volle Zeit, sich in das Gotteshaus zu begeben, und der mit hohen Linden umstandene Platz vor demselben füllte sich immer mehr mit Kirchgängern, als Carl dort erschien und sich nach den Seinigen umschaute. Während er durch die Menge hinschritt, wurde er von allen Seiten angehalten. Jedermann wollte dem braven Knaben die Hand reichen und ihn begrüßen, und unter warmen Liebesbezeugungen und lauter Anerkennung seiner edlen hochherzigen That gelangte er zu Turners. Hier waren nun viele von deren näheren Freunden versammelt, und abermals wurde Carl reiches Lob gespendet. Diese Liebe, diese Beweise von Zuneigung erfüllten sein junges Herz mit Freude, doch blieb er weit davon entfernt, sich etwas auf seine That einzubilden, da er nicht anders wußte, als daß Jedermann ebenso handeln müsse, wie er es gethan hatte.
Nach beendigtem Gottesdienste begleiteten viele Bekannte Turners diese nach dem Wagen, welcher im Schatten der alten Lindenbäume gehalten hatte, und eine große Anzahl der Freunde kündigten ihren Besuch auf der Kluse für den Nachmittag an. Auf halbem Heimwege holte Carl die Seinigen wieder ein, und blieb nun in der Nähe des Fuhrwerks, indem er bald im Schritt zurückblieb, und bald wieder im Trabe oder im Galopp bei ihm vorübereilte. Wohlbehalten und in der glücklich heitern Stimmung, wie sie das Herz des Menschen nach Beseitigung einer großen Gefahr noch lange Zeit erfüllt, langte die Familie zu Hause an; es wurde schnell zu Mittag gespeist, und dann begab sich Madame Turner mit Julie in die Vorrathskammern und in die Küche, um die nöthigen Vorbereitungen zur Bewirthung der zu erwartenden lieben Gäste zu treffen.
Gastfreundschaft und Freigebigkeit hatten von jeher auf der Kluse geherrscht, und auch die gegenwärtigen Bewohner derselben waren weit und breit dafür bekannt, daß Freunde ihnen jederzeit willkommen waren. Arme Leute fanden dort immer Arbeit, und oftmals gab Turner ihnen Beschäftigung, wenn ihr Dienst ihm auch in keiner Weise einen Vortheil bot, und Kranke und Altersschwache meldeten sich niemals in diesem Hause, ohne Unterstützung, Pflege und Trost zu erhalten. Der Freunde aber, welche von Turners Gastfreundschaft Gebrauch machten, waren unzählige; es verging fast kein Tag, wo nicht einige derselben sich auf der Kluse einfanden, und selten waren die Mittagstafeln, der Kaffeetisch oder die Abendmahlzeit ohne Gäste. Madame Turner machte ihretwegen durchaus keine Aenderungen in den häuslichen Einrichtungen, sie wurden herzlich willkommen geheißen und mußten mit dem vorlieb nehmen, was die Hausordnung mit sich brachte. Alles aber, was man ihnen reichte, wurde freudig gegeben und war gut, ja, man sagte allgemein, besser als irgendwo anders. Der Spaziergang von dem Städtchen nach der Kluse war ein nicht gar weiter, der Weg trocken und eben und die Gegend malerisch schön. Das Gut selbst lag reizend, hatte eine zauberisch liebliche, von fernen blauen Gebirgen begrenzte Aussicht in das Werrathal, und seine Gärten waren wegen ihrem Blumenflor sowohl, als wegen ihres herrlichen Obstes berühmt.
Heute, am zweiten Pfingsttage, wurde nun allerdings der Kaffeetisch, der in der Laube des Gartens gedeckt war, mit größerer Sorgfalt besetzt, als gewöhnlich: das gute Porzellan- und Silbergeschirr war aufgetragen, und ein reichlicher Vorrath von verschiedenen Festkuchen erhob sich auf der Mitte des Tisches. Madame Turner selbst erschien in einem schwarzen seidenen Gewande, trug aber zum Schutze für dasselbe eine blendend weiße Schürze darüber, und Julie, die der Mutter beim Anordnen des Tisches zur Hand ging, war weiß gekleidet, und glich mit dem blaßrothen seidenen Bande, welches sie umgab, den zarten Blüthen, womit der Frühling die Bäume des Gartens geschmückt hatte.
Die Gäste stellten sich bald in großer Zahl ein, sie wurden herzlich und freudig bewillkommnet, es wurde Alles aufgeboten, ihnen den Aufenthalt angenehm zu machen, ihre Erwartungen und Wünsche auf das vollkommenste zu befriedigen, und der allgemeine Frohsinn, die unbegrenzte Heiterkeit, unter welchen der Nachmittag hingebracht wurde, zeigten deutlich, wie sehr das Bestreben Turners sein Ziel erreicht hatte.
Der Tag neigte sich, die Sonne versank, und der Abendstern begann zu funkeln. Es war ein zauberisch schöner milder Abend, die Bewegung der Luft hatte nicht Macht genug, die fallenden schneeigen Blüthen der Bäume mit sich fortzutragen, nur den Duft derselben nahm sie mit sich und mischte ihn mit dem der Wälder, der Wiesen und der Felder. Von allen Seiten des Berggartens her ertönte der schmelzende melodische Gesang der Nachtigallen, als wetteiferten sie, der Familie Turner und deren Gästen ihre schönsten Lieder darzubringen, als forderten sie dieselben auf, näher zu ihren dunkeln Verstecken heranzutreten. Die ganze Gesellschaft erhob sich, um sich in der erfrischenden Abendluft zu ergehen und den höher gelegenen Theil des Gartens zu besuchen, von wo sie die Aussicht auf das Thal noch freier und ungehinderter genießen konnte. Noch hatten sie die Höhe nicht erreicht, als der Mond glänzend am Himmel aufstieg und sein mildes helles Licht über die Erde breitete.
Madame Turner