ganz auf Jonas Henneke angewiesen zu sein.
Carry ging wieder brav früh zu Bett. Sie war es so gewohnt und sie brauchte auch die Ruhe. Tante Hanne hatte sich noch für eine halbe Stunde an ihr Bett gesetzt, aber schon vorher erklärt, dass sie auch recht müde und durch das Wetter geschafft sei.
Jonas und Miriam waren wieder allein. »Ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen, Miriam«, sagte er. »Dürfte ich darauf hoffen, dass Sie bei Carry bleiben, bis sie das Schlimmste überstanden hat? Carry hat so viel Vertrauen zu Ihnen.«
»Und Sie, Jonas? Sie wissen nichts über mich.«
»Ich pflege mir mein eigenes Urteil zu bilden«, sagte er.
»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich im Gefängnis war und man mir die Fähigkeit absprach, meinen Beruf auszuüben?«
»Sie kommen aus Beirut. Ist da nicht manchmal etwas anders als bei uns? Aber vielleicht schenken Sie mir Ihr Vertrauen und erzählen mir, in welchen Schwierigkeiten Sie waren.«
Ganz ruhig war seine Stimme und so tröstlich für Miriam.
»Diese Jahre waren schrecklich«, sagte sie tonlos.
»Auch ich habe schreckliche Jahre hinter mir, Miriam«, sagte Jonas. »Fast sechzehn schreckliche Jahre. So viele können es bei Ihnen nicht sein.«
»Aber Sie haben gekämpft, und ich war des Kämpfens müde. Carry war es, die mich in ihrer Hilflosigkeit mahnte, dass ein Mensch nicht aufgeben und nicht an sich selbst verzweifeln darf.«
»Sollte das nicht ein neuer Beginn sein, Miriam?«, fragte Jonas. »Ich weiß, dass Sie alles für Carry tun würden. Deshalb können Sie keine Fremde für mich sein. Carry ist viel stärker, als ich glaubte. Wir hatten heute ein langes Gespräch, das mich staunen ließ, wie viel Willen in diesem zarten Geschöpf steckt. Carrys Zuneigung zu Ihnen ist stark. Macht Sie das nicht ein bisschen glücklich?«
»Nicht ein bisschen. Sehr. Ich will, dass sie gesund wird.«
»Danke«, sagte er schlicht.
»Mein Leben hat also wieder einen Sinn«, sagte sie. »Es ist wie ein Wunder. Der Nebel ist mein Freund geworden.«
»Nicht nur der Nebel, Miriam«, sagte Jonas. »Und nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Von mir wissen Sie schon viel mehr.«
Es wurde sehr spät, bis sie sich trennten. Miriam konnte es nicht begreifen, dass sie alles noch einmal hatte sagen können. Wie in Trance hatte sie es getan, sich an Nebensächlichkeiten erinnernd, auch an jenen Tag, als sie Rick mit dem Mädchen, das nicht viel älter als Carry war, in einer eindeutigen Situation überrascht hatte.
»Warum sind Sie dort unten geblieben, Miriam?«, fragte Jonas.
»Ich hatte einen Vertrag unterschrieben. Man kann nicht einfach vertragsbrüchig werden. Die Zeit war dann fast beendet, als es zu dieser schrecklichen Geschichte kam.«
»Kamen Sie wegen Dr. Norden zurück?«, fragte Jonas zögernd.
»Ich war in einem Stadium der Selbstzerstörung, Jonas. Ich hatte gute Erinnerungen an diese Studienzeit und an Daniel, auch an andere. Aber manchmal fragte ich mich, ob auch Daniel, dem Rick vom Typ her ähnlich war, sich auch zum Nachteil entwickelt hätte, dennoch hoffte ich das Gegenteil, was sich auch bewiesen hat. Ich zweifelte selbst an meinem Geisteszustand. Ja, ich fragte mich auch, warum ich nicht wenigstens versucht hatte, Ricks Wagen noch auszuweichen. Es ist unbegreiflich, was einem in solchen Sekunden alles durch den Kopf schwirrt.«
»Im Flugzeug waren es lange Minuten«, sagte Jonas nachdenklich.
»Eine Ewigkeit«, bestätigte sie. »Aber da dachte ich nur an Carry.«
»Was habe ich alles gedacht in diesen schrecklichen Minuten«, sagte er. »Und nun, im Nachhinein, betrachte ich es als gutes Omen, dass das Leben meines Kindes erhalten bleiben soll. Ich werde mich morgen mit Dr. Norden in Verbindung setzen. Übrigens werden wir morgen Gäste haben. Der Sohn eines Geschäftsfreundes aus Kiel möchte mir seine zukünftige Frau vorstellen. Er rief mich vorhin an. Sie haben doch nichts anderes vor? Ich will nicht über Ihre Zeit verfügen, aber es wäre nett, wenn Sie dabei sein würden. Wenn nicht mir, dann Carry zuliebe.«
»Ich habe keine entsprechende Kleidung«, sagte Miriam verlegen.
»So offiziell wird es auch wieder nicht. Aber wie wäre es, wenn Sie morgen mit Carry einen Einkaufsbummel machen würden? Sie ist mit Kleidung auch nicht besonders gut versorgt. Ich hoffe, dass Sie es nicht falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, dabei auch an sich zu denken. Ich bin tief in Ihrer Schuld.«
»Nein, das sind Sie nicht, Jonas.«
»Ist es nicht selbstverständlich, dass gute Freunde, und das sind wir doch schon geworden, untereinander helfen? Wie wäre es, wenn wir einen Vertrag schließen würden, Miriam? Sie bleiben bei uns zur Betreuung Carrys, und es ist selbstverständlich, dass ich Sie dafür entschädige, ohne dass Sie sich abhängig fühlen müssten.« Er war voller Hemmungen und wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
Miriam kämpfte mit widersprüchlichen Empfindungen, aber dann sah sie ihn voll an. »In meiner Situation muss ich Ihnen für dieses Angebot sogar dankbar sein«, sagte sie.
»Das ist doch ein Wort«, sagte er. »Jetzt fühle ich mich besser. Also, dann haben wir morgen allerhand vor.«
»Und jetzt ist es Zeit, schlafen zu gehen«, sagte Miriam. »Vielen Dank für alles, Jonas.«
»Das will ich nicht mehr hören, sonst müsste ich immer wieder sagen, wie dankbar ich bin, und das wiederum wollen Sie nicht hören. Wir haben viel gemeinsam, Miriam, aber wichtig ist, dass wir vergessen, was in der Vergangenheit geschah, Sie ebenso wie ich.«
*
Bei den Nordens war es auch spät geworden, denn nach einem solchen Tag brauchte Daniel Zeit, sich abzureagieren. Schlaf konnte er da nicht so schnell finden.
Fee hatte die neueste Platte von David Delorme aufgelegt. Er war wirklich ein großartiger Pianist.
»Besser denn je«, sagte Daniel, der klassische Musik immer geliebt hatte, früher aber Streichinstrumente vorzog. »David ist ein Zauberer.«
»Unsere Katja hat er ja auch verzaubert«, sagte Fee. »Er ist sehr viel reifer geworden.«
Nun war es ihr doch gelungen, Daniel auf andere Gedanken zu bringen, und das ließ sie aufatmen.
»Du bist auch eine Zauberfee«, sagte Daniel innig.
»Jetzt ist mir wohler!«
Fee lehnte sich an ihn. Minutenlanges Schweigen war zwischen ihnen, als die letzten Töne der Beethovensonate verklungen waren.
»Ich wollte dir noch sagen, dass ich Miriam tausend Euro gegeben habe, Fee«, sagte Daniel. »Man muss ihr doch helfen.«
»Sie wird es zurückgeben, meine ich. Mein Gott, was hat diese Frau durchgemacht. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.«
»Sie hat sich sehr verändert. Wenn du sie früher gekannt hättest, würdest du diese Wandlung nicht für möglich halten.«
»Wie war sie früher?«, fragte Fee.
»Sehr attraktiv, sehr ehrgeizig und kalt wie ein Eisblock. Sehr emanzipiert, andererseits aber diejenige, die den meisten Mut bewies, wenn es um wichtige Dinge ging. Sie flößte uns Respekt ein und das war gewiss nicht einfach. Wir schlossen untereinander Wetten ab, wem es gelingen würde, sie aus ihrer Reserve zu locken. Es ist keinem gelungen. Benten war hinter ihr her wie ein verliebter Gockel, aber auch er bekam eine Abfuhr, die sich gewaschen hatte.«
»Und dann verliebte sie sich ausgerechnet in einen Mann, der ihr nur Unglück brachte.«
»Manchmal muss der Teufel im Spiel sein«, sagte Daniel. »Es ist ein Jammer.«
»Man sollte sich doch mal an die Ärztekammer wenden, oder meinst du, dass sie solchen Knacks bekommen hat, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann?«
»Zumindest