gewachsen«, sagte Dr. Semmelbrot freundlich.
»Aber Miriam darf hierbleiben«, sagte Carry kategorisch.
»Frau Dr. Perez ist Ärztin und die Betreuerin meiner Tochter«, erklärte Jonas ruhig.
»Gegen eine persönliche Betreuung ist nichts einzuwenden«, sagte Dr. Semmelbrot, Miriam forschend musternd. »Auch hier herrscht Schwesternmangel.«
Das Zimmer, das ihr zugewiesen wurde, wurde auch von Tante Hanne und Jonas begutachtet und akzeptiert. Es war nicht groß, aber kein schmaler Schlauch, sondern quadratisch. Es hatte auch ein Radio, und Dr. Semmelbrot sagte, dass auf Wunsch auch ein Fernsehgerät aufgestellt werden könne.
»Das brauche ich nicht, wenn Miriam bei mir ist«, sagte Carry rasch. »Wir haben immer Gesprächsstoff.«
Auch damit setzte sie den Arzt in Erstaunen, denn gerade junge Patienten aus begüterten Familien legten großen Wert auf diese Fernsehunterhaltung, mehr noch als auf Besuche, wie er hatte oftmals feststellen können.
Carry fiel in jeder Beziehung aus dem Rahmen, und er sollte sie noch besser kennenlernen, als er dann gleich mit der Voruntersuchung begann, bei der Zuschauer ausgeschlossen wurden, auch Miriam. Freundlich, aber bestimmt erklärte Dr. Semmelbrot, dass die Vorschriften der Klinik dies so bestimmten. Jonas entschloss sich, in den Verlag zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Tante Hanne schlug Miriam vor, mit ihr Kaffee trinken zu gehen.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte sie, »aber immer, wenn ich in einer Klinik bin, bekomme ich Durst.«
Doch der eigentliche Grund war, dass sie daheim nicht allein sein wollte, denn innerlich war sie weit weniger ruhig, als sie nach außen hin demonstrieren wollte.
»Ich komme dann nachher und hole euch ab«, sagte Jonas.
Tante Hanne war es nur recht, einmal mit Miriam allein sein zu können, denn dazu hatte sie bisher keine Gelegenheit gefunden, da Carry nie von Miriams Seite gewichen war.
»Jetzt sagen Sie mir mal ganz ehrlich, ob Sie sich überrumpelt vorkommen, Miriam«, begann sie das Gespräch.
»Aber ganz im Gegenteil. Ich müsste Sie fragen, ob Sie nicht befremdet über diese Entwicklung sind.«
»Ganz im Gegenteil, muss da auch ich sagen. Etwas Besseres konnte uns doch gar nicht passieren. Ein junger Mensch ist doch für ein so junges Mädchen wie Carry eine viel erfreulichere Gesellschaft als eine alte Tante.«
»Nun, ich bin überzeugt, dass Sie ihr sehr viel Liebe entgegenbringen.«
»Und Mitleid, und das hätte sie auch gespürt. Mitleid kann schmerzen, aber wenn man so gar nicht einverstanden war mit der ganzen Entwicklung, wie ich, können manchmal auch ganz impulsiv Worte fallen, deren Wirkung man nicht absehen kann. Ich meine, unser Aneinandergewöhnen wäre viel komplizierter geworden, wenn Sie nicht bei uns sein würden. Schließlich war Carry bisher immer nur mit einer alten Dame zusammen, und wenn ich mich bei Gott auch nicht mit Signora Giordane vergleichen will, so bleibt zumindest die Tatsache bestehen, dass ich auch eine alte Dame bin. Ja, es ist alles gut so, wie es ist, und ich hoffe, Sie werden es nie bereuen, unsere Sorgen um Carry zu teilen.«
»Es wird alles gut werden«, sagte Miriam leise. »Carry wird Freundinnen ihrer Altersklasse finden. Sie ist noch jung genug, um zu vergessen, was bedrückend war.«
»Was ich sehr hoffe, aber immerhin ist Carrys Zuneigung für Sie kein flüchtiges Gefühl, und ich darf auch feststellen, dass wir Sie sehr vermissen würden, wenn Sie nicht mehr bei uns wären. Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Oder wollen Sie sich schon bald nach einer Stellung umsehen?«
»Ich habe versprochen zu bleiben, bis Carry ganz gesund ist«, erwiderte Miriam ausweichend.
»Ich will Sie ja nicht unter Druck setzen, Miriam. Sehen Sie, ich rede immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Damals, als Jonas Lucia heiratete, habe ich ihm gleich gesagt, dass das nicht gut gehen wird.«
»Waren Sie davon denn überzeugt?«, fragte Miriam nachdenklich.
»Ich schon. Viele meinten, da käme Kraft und Schönheit zusammen, für mich war es Gemüt und Eitelkeit. Lucia war bezaubernd, zugegeben, betörend, sollte man besser sagen. Aber sie war eitel, oberflächlich und egoistisch. Sie hat genau berechnet, was Jonas ihr bieten kann. Er war nur so verblendet, das nicht zu merken.«
»Er war eben verliebt«, meinte Miriam.
»Ja, aber mehr war es auch nicht. Das meinte er nur, weil er einfach nicht genügend Erfahrungen gesammelt hatte. An erster Stelle stand für ihn immer der Betrieb, nachdem er seinen Vater so plötzlich verloren hatte, und dann liebte er seine Mutter auch sehr. Auch sie hat sich mit Lucia nicht verstanden. Das konnte auch gar nicht möglich sein. Lucia machte Jonas sehr bald nach der Hochzeit klar, dass sie nicht daran dächte, mit seiner Mutter unter einem Dach zu leben, aber diesbezüglich machte er keine Konzessionen. Charlott kränkelte nach dem Tode ihres Mannes, und Lucia gab ihr den Rest. Es klingt hart, aber es ist so. Sie erlebte es noch, dass Lucia zu ihren Eltern zurückging, starb dann aber bald an akutem Herzversagen. Auch dann machte Lucia keine Anstalten, zu ihrem Mann zurückzukehren, doch ich glaube, dass Jonas da schon wusste, wie unbeständig ihre Gefühle für ihn gewesen waren. Sie mögen jetzt vielleicht denken, ich sehe es so, wie ich es gern sehen wollte, aber ich kenne Jonas besser, als er selber glaubt. Natürlich hat es ihn getroffen, dass Lucia so jung sterben musste. Vater, Mutter und die Frau innerhalb weniger Jahre zu verlieren ist nicht so einfach, und danach dann das Tauziehen um das Kind, die Diffamierungen, die er ertragen musste. Es gehört ein starker Charakter dazu, um das zu ertragen.«
»Das ganz gewiss«, sagte Miriam leise.
»Sie haben auch einen starken Charakter«, sagte Tante Hanne.
»Es ist noch gar nicht lange her, dass ich daran sehr zweifelte, fast verzweifelte«, erklärte Miriam tonlos.
»Dass Sie viel erlebt haben, brauchen Sie mir nicht zu sagen, man sieht es Ihnen an. Doch damit will ich nicht sagen, dass dies Ihre Schönheit beeinträchtigt, Miriam.«
»Du liebe Güte, nun auch noch Komplimente, Tante Hanne«, sagte Miriam im scherzhaften Ton. »Von Schönheit kann man doch bei mir wahrhaftig nicht reden. Hatten Sie gestern nicht genügend Vergleichsmöglichkeiten?«
»Es kommt immer darauf an, mit welchen Augen man einen Menschen betrachtet. So, ich denke, wir können wieder in die Klinik gehen. So ewig wird die Untersuchung doch nicht dauern.«
Aber sie dauerte immer noch an, auch dann noch, als Jonas zurückkam. Er wurde merklich unruhig.
Zuerst hatte Carry aufmerksam verfolgt, was man da mit ihr anstellte. Es war ihr nicht angenehm, dass eine Medizinalassistentin dabei war, obgleich es ein nettes Mädchen war. Von den Fachausdrücken verstand Carry trotz ihrer Lateinkenntnisse kaum etwas, aber Fragen stellte sie dann erst, als die Assistentin entlassen wurde und sie allein mit Dr. Semmelbrot war.
»Hätte das nicht auch Miriam machen können? Sie versteht es doch bestimmt besser als ein junges Mädchen«, meinte sie.
»Wir haben uns an bestimmte Vorschriften zu halten, Fräulein Henneke. Ich müsste die Erlaubnis des Klinikdirektors einholen. Ich bin hier nicht der Chef.«
»Es war nicht böse gemeint«, sagte Carry kleinlaut. »Sie können übrigens ruhig Carry zu mir sagen. Fräulein klingt so komisch.«
»Auch diesbezüglich gibt es bestimmte Vorschriften. Wenn es jemand hört, könnte es mir als unangebrachte Vertraulichkeiten ausgelegt werden«, sagte Dr. Semmelbrot mit einem Zwinkern, das unterstreichen sollte, wie komisch er dies fand.
»Sie haben aber strenge Bestimmungen«, sagte Carry.
»In manchen Fällen sind sie angebracht«, erklärte er, auf einem Apparat den sie nicht sehen konnte, genau ihren Herzschlag beobachtend.
»Aber Fragen darf man doch stellen?«, fragte Carry.
»Gewiss.«
»Wie groß ist das Loch?«
»Das