Patricia Vandenberg

Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman


Скачать книгу

lernt es mit der Zeit«, erklärte er lächelnd. »Eine richtige Diagnose aus einer Röntgenaufnahme zu stellen, ist eine Wissenschaft für sich. Und mag sie auch noch so gut sein, verlassen allein kann man sich darauf auch nicht.«

      »Sie sind auch so gründlich wie Dr. Norden«, sagte Carry.

      »Sie kennen ihn?«

      »Ja, ich habe ihn gestern Abend kennengelernt, und ich habe mich sehr gut mit ihm unterhalten. Er denkt nicht, dass ich ein dummes kleines Mädchen bin.«

      Dr. Semmelbrot errötete leicht. »Das denke ich auch nicht.«

      »In zwei Monaten werde ich sechzehn, da möchte ich ganz gesund sein. Dann darf ich doch auch tanzen?«

      »Möchten Sie das so gern?«, fragte er.

      »O ja, ich stelle es mir schön vor. Ich werde Sie einladen und den ersten Tanz mit Ihnen tanzen, zum Dank«, fügte sie nun auch errötend hinzu.

      »Das ist aber nett«, sagte Dr. Semmelbrot lächelnd. »Aber ich bin kein guter Tänzer.«

      »Das dachte ich mir«, sagte Carry tiefsinnig, »aber bis dahin werde ich ja auch nicht perfekt tanzen können.«

      Sie war entzückend naiv und doch schon recht witzig, ohne dass man dies hätte falsch auslegen können. Für den noch jungen Arzt, dem man diese schwierige Operation anvertraute, wurde diese plötzlich zu einer erdrückenden Verantwortung, denn für ihn gab es keinen Zweifel mehr, dass sie ihm alles abverlangen würde.

      »Ihre Tochter hätte schon als Kind operiert werden müssen, Herr Henneke«, sagte er später ganz offen zu Jonas. »Sie hat eine sehr zarte Konstitution.«

      »Sagen Sie es, wenn Sie sich die Operation nicht zutrauen«, stieß Jonas hervor.

      »Die Operation selbst ist es nicht, Herr Henneke. Ich mag keine Umschreibungen. Wir werden eine sehr lange Narkose brauchen. Ich muss Sie doch auf jede Komplikation aufmerksam machen. Das halte ich für meine Pflicht. Ihre Tochter war großen psychischen Belastungen ausgesetzt.«

      »Das sagte ich Ihnen doch«, erklärte Jonas ungeduldig. »Entschuldigen Sie, aber das lange Warten hat mir schon Sorgen bereitet.«

      »Ich habe alle Reaktionen getestet«, erklärte der Arzt, »ich habe mich auch mit Ihrer Tochter unterhalten. Es kommt in erster Linie darauf an, dass alle Aufregungen von ihr ferngehalten werden und sie sich auf etwas sehr freuen kann. Sie hat von ihrem Geburtstag gesprochen, auf dem sie tanzen möchte.«

      Jonas’ Miene lockerte sich. »Dann ist Carry aber schon sehr zutraulich, Herr Doktor«, sagte er gelöster. »Sonst ist sie Fremden gegenüber sehr gehemmt.«

      »Es gehört zu meinem Beruf, das Vertrauen des Patienten zu gewinnen. Ohne dieses sollte man an eine schwierige Aufgabe gar nicht herangehen, aber bei weniger sensiblen Naturen ist der Bekanntheitsgrad eines Arztes oft ausschlaggebend. Meiner ist gleich Null.«

      »Unter Ihren Kollegen aber anscheinend nicht. Ich vertraue Ihnen meine Tochter an. Miriam wird immer bei ihr sein, das mache ich zur Bedingung. Kann man es nicht erreichen, dass sie bei der Operation dabei ist?«

      »Ob sie das will?«, fragte Dr. Semmelbrot.

      »Darüber müsste ich mit ihr sprechen. Bestünde die Möglichkeit?«

      »Ich brauche die Erlaubnis des Chefs. Professor Dietl operiert nicht mehr selbst, aber er führt ein ziemlich strenges Regiment.«

      »Und kann man diesen strengen Mann sprechen?«

      »Aber sicher. Um den guten Ruf seiner Klinik ist er sehr besorgt und auch um das Wohlergehen der Patienten. Er nimmt das Skalpell nicht mehr in die Hand, weil sein Arm durch eine schwere Arthritis unsicher geworden ist.«

      »Wenn nur alle Ärzte so selbstkritisch und einsichtig wären«, sagte Jonas. »Also gut, ich werde mit Miriam und auch mit Professor Dietl sprechen. Welchen Ton schlägt man da am besten an?«

      Dr. Semmelbrot lächelte. »Möglichst bayerisch«, erwiderte er, »und geradezu.«

      »Na, das wird mir nicht schwerfallen«, sagte Jonas. »Sie nehmen es mir doch nicht übel, dass ich so besorgt bin?«

      »Es wäre schlimm, wenn es anders wäre«, kam die Antwort sehr schnell.

      *

      »Jürgen heißt er mit Vornamen«, sagte Carry flüsternd zu Miriam. »Jürgen Semmelbrot klingt doch gar nicht so übel, findest du nicht? Vielleicht waren seine Vorfahren mal Bäcker.«

      »Woran du alles denkst«, meinte Miriam lächelnd.

      »Es lohnt sich doch, darüber nachzudenken, und außerdem finde ich ihn nett. Er redete nicht um den heißen Brei herum. Er redet wie Tante Hanne.«

      »Und ich?«, fragte Miriam leicht betroffen.

      »Du bist immer lieb und willst ja nichts sagen, was ich möglicherweise falsch auslegen könnte. Papi ist genauso. Aber so zimperlich bin ich gar nicht, Miriam. Hier jedenfalls nicht. Nonna war viel verletzender. Sie ermahnte mich nicht aus liebevoller Besorgnis, sondern um mir immer wieder deutlich zu machen, dass ich krank bin und noch kränker werden könne, wenn fremdes Blut durch meine Adern fließt.«

      »Du lieber Gott, ihr ging es um Bluttransfusionen?«

      »Ja, das auch, und dann meinte sie auch, dass ich ein ganz anderer Mensch werden könnte. Sie hat manchmal geredet, dass mir wirklich bange wurde. Was hast du eigentlich für eine Blutgruppe, Miriam?«

      »AB«, erwiderte Miriam.

      »Ich habe Null. Ob Papi auch Null hat?«

      »Ich weiß nicht. Ich werde ihn fragen. Aber vor einer Blutkonserve brauchst du auch keine Angst zu haben, Carry.«

      »Nonna hat gesagt, dass damit auch schlimme Krankheiten übertragen werden können.«

      In diesem Fall konnte Miriam nicht mal widersprechen, denn tatsächlich hatte es solche Fälle gegeben, doch sie wollte sich jetzt den Kopf mit solchen Überlegungen nicht heiß machen.

      »Hier kannst du ganz unbesorgt sein, mein Liebes. Und nun wirst du ganz schön schlafen.«

      Sie hatte auf die Uhr geschaut. Jonas hatte Tante Hanne nach Hause gefahren und gesagt, dass er sie gegen neun Uhr abholen würde.

      »Ich bin auch ziemlich müde«, sagte Carry. »Es war doch ganz schön anstrengend. Ich wollte ja alles genau mitbekommen, aber wenn ich auch ganz gesund werde, zur Ärztin tauge ich bestimmt nicht, Miriam. Ich würde es nicht verkraften, für das Leben eines Menschen verantwortlich zu sein. Wie war dir da immer zumute?«

      »Optimistisch, meine kleine Carry. Solange ein Mensch lebt, darf man nie den Glauben aufgeben.«

      »Ich frage mich nur, warum Mama gestorben ist, wo Nonna doch immer so viel gebetet hat.«

      »In manchen Fällen sind Ärzte machtlos.« Aber vielleicht war es auch nicht der richtige Glaube, dachte Miriam weiter. Bei Lucia nicht und auch bei der Nonna nicht. Sie streichelte Carrys Wange. »Du musst an deine Genesung glauben, mein Kleines.«

      »Ich brauche dich, Miriam«, flüsterte das Mädchen.

      »Ich brauche dich auch, Carry«, sagte Miriam. »Ja, ich brauche dich, und wenn du gesund bist, werde ich dir erzählen, wie sehr du mir geholfen hast.«

      Und mit diesen Worten flößte sie dem jungen Geschöpf eine solche Kraft ein, von der sie selbst nichts ahnte.

      Jonas erwartete Miriam schon draußen. Er hatte ganz gegen seine Gewohnheit aus purer Nervosität mal wieder eine Zigarette geraucht. Miriam rümpfte die Nase.

      »Ich bin kein starker Raucher«, sagte er entschuldigend.

      »Es sollte kein Vorwurf sein«, sagte Miriam. »Ich habe Sie lange warten lasen, aber ich blieb bei Carry, bis sie eingeschlafen war.«

      »Danke, Miriam. Wie fühlt sie sich? Ich hab’ das Gefühl,