George Sand

Gesammelte Werke


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sah. Nein, ich will mich, sag­te sie zu sich, nicht fürch­ten vor ei­nem so sanf­ten, fried­lie­ben­den We­sen. Dies ist die Zel­le ei­nes Hei­li­gen, nicht der Ker­ker ei­nes Ver­rück­ten. Je kla­rer ihr aber die Be­schaf­fen­heit sei­ner Geis­tes­krank­heit wur­de, de­sto mehr fühl­te sie sich be­fan­gen und ver­wirrt. Fast be­dau­er­te sie es, nicht lie­ber einen Geis­tes­ab­we­sen­den oder einen Ster­ben­den zu fin­den, und die Ge­wiss­heit, ei­nem or­dent­li­chen Men­schen zu be­geg­nen, hielt sie mehr und mehr zu­rück.

      Sie war schon seit ei­ni­gen Mi­nu­ten in ihr Sin­nen ver­lo­ren und wuss­te nicht, wie sie sich an­mel­den soll­te, als der Klang ei­nes be­wun­derns­wür­di­gen In­stru­men­tes ihr Ohr be­rühr­te: es war ein Stra­di­va­ri, dem eine rei­ne, kun­di­ge Hand die Töne ei­ner schwer­mü­tig er­ha­be­nen, groß­ar­ti­gen Me­lo­die ent­lock­te. Nie hat­te Con­sue­lo eine so voll­kom­me­ne Gei­ge ge­hört, ein so ein­fa­ches und er­grei­fen­des Spiel. Die Me­lo­die war ihr fremd, aber nach ih­rer ei­gen­tüm­li­chen, kunst­lo­sen Füh­rung ur­teil­te sie, dass die­sel­be ein hö­he­res Al­ter ha­ben müss­te, als alle ihr be­kann­te Mu­sik. Sie lausch­te mit Ent­zücken und konn­te es sich nun er­klä­ren, wie Al­bert bei den ers­ten Tö­nen, die er sie sin­gen hör­te, sie so­gleich be­grif­fen hat­te. Ihm war das We­sen der wah­ren, der großen Mu­sik auf­ge­gan­gen. Er war viel­leicht kein in je­der Hin­sicht ge­lehr­ter Mu­si­ker, be­saß viel­leicht nicht alle die Kunst­mit­tel, wel­che blen­den, aber der himm­li­sche Hauch hat­te ihn be­rührt, die Er­kennt­nis und die Lie­be des Schö­nen.

      Als er auf­hör­te, woll­te Con­sue­lo, nun­mehr ganz be­schwich­tigt und von ei­ner leb­haf­te­ren Sym­pa­thie an­ge­zo­gen, eben an die Tür klop­fen, wel­che ihn noch von ihr trenn­te, als die­se Tür sich lang­sam öff­ne­te und der jun­ge Graf auf der Schwel­le er­schi­en, den Kopf ge­senkt, die Au­gen zu Bo­den ge­schla­gen, Gei­ge und Bo­gen in den her­ab­han­gen­den Hän­den. Sei­ne Bläs­se war er­schre­ckend, Klei­dung und Haar in ei­ner Un­ord­nung, wie es Con­sue­lo noch nie ge­se­hen hat­te. Sei­ne zer­streu­te Mie­ne, sei­ne ge­bro­che­ne, schlaf­fe Hal­tung, die ver­zweif­lungs­vol­le Läs­sig­keit sei­ner Be­we­gun­gen, al­les an ihm ver­riet, wenn nicht gänz­li­che Be­wusst­lo­sig­keit, doch we­nigs­tens Zer­rüt­tung und Ver­lo­ren­heit des Wil­lens. Man hät­te glau­ben sol­len einen je­ner stum­men, der Erin­ne­rung be­raub­ten Geis­ter zu se­hen, wel­che nach dem Glau­ben der sla­vi­schen Stäm­me, nachts me­cha­nisch in die Häu­ser kom­men und, ih­ren al­ten Le­bens­ge­wohn­hei­ten und Be­schäf­ti­gun­gen ohne Fol­ge und ohne Zweck be­wusst­los nach­ge­hend, ihre er­schro­cke­nen Freun­de und Die­ner nicht er­ken­nen, noch be­mer­ken, die ent­we­der flie­hen oder ih­nen starr vor Stau­nen und Furcht zu­se­hen.

      So Con­sue­lo, als sie den Gra­fen Al­bert er­blick­te und be­merk­te, dass er sie nicht sah, ob­gleich er nur zwei Schrit­te von ihr ent­fernt war. Ajax war auf­ge­sprun­gen und leck­te sei­nem Herrn die Hand. Al­bert re­de­te ihm aus Böh­misch freund­lich zu; und mit dem Bli­cke den Be­we­gun­gen des Hun­des fol­gend, der sich mit sei­nen be­schei­de­nen Lieb­ko­sun­gen zu Con­sue­lo wen­de­te, sah er die Füße des jun­gen Mäd­chens scharf an, wel­che fast wie Zden­ko’s Füße be­klei­det wa­ren, und sag­te, ohne auf­zu­se­hen, ein Paar böh­mi­sche Wor­te, die Con­sue­lo nicht ver­stand, die aber, eine Fra­ge zu sein schie­nen und mit ih­rem Na­men en­de­ten.

      Als ihn Con­sue­lo in die­sem Zu­stan­de sah, fühl­te sie ihre Furcht ver­schwin­den. Ganz voll Mit­leid sah sie jetzt in ihm nur den schmerz­lich lei­den­den See­len­kran­ken, der nach ihr rief, ohne sie zu er­ken­nen, und ihre Hand fest und ver­trau­ens­voll auf den Arm des jun­gen Man­nes le­gend, sag­te sie auf spa­nisch mit ih­rer rei­nen, hel­len Stim­me:

      – Da ist Con­sue­lo!

      14.

      Kaum hat­te sich Con­sue­lo ge­nannt, als Graf Al­bert die Au­gen auf­schlug und ihr ins Ge­sicht blick­te. Hal­tung und Mie­nen ver­wan­del­ten sich plötz­lich. Er ließ sei­ne kost­ba­re Gei­ge auf den Bo­den fal­len, so acht­los, als hät­te er nie­mals ih­ren Ge­brauch ge­kannt, und mit dem Aus­druck ei­nes ehr­furchts­vol­len Schmer­zes und der tiefs­ten Rüh­rung sei­ne Hän­de fal­tend, rief er aus mit ei­nem Seuf­zer, wel­cher sei­ne Brust zu spren­gen schi­en:

      – So seh ich dich end­lich wie­der an die­ser Stät­te der Ver­ban­nung und des Lei­dens, du mei­ne arme Wan­da! Lie­be, lie­be un­glück­se­li­ge Schwes­ter! Un­glück­li­ches Op­fer, das ich zu spät räch­te, das ich be­schüt­zen nicht ge­konnt. Ach, du weißt, du weißt es, der Elen­de, wel­cher dich miss­han­del­te, ist un­ter al­len Mar­tern um­ge­kom­men, und mei­ne Hand hat sich er­bar­mungs­los ge­ba­det in dem Blu­te sei­ner Mit­schul­di­gen. Ich schlug ihr tief die Ader, der heil­lo­sen Kir­che. In Strö­men Blu­tes wusch ich den Schimpf ab, dei­nen Schimpf, den mei­nen und den Schimpf mei­nes Vol­kes. Was willst du mehr, fried­lo­se, ra­che­for­dern­de See­le? Die Zeit des Ei­fers und des Zor­nes ist vor­bei, der Tag der Reue und der Süh­ne ist ge­kom­men, For­de­re von mir Trä­nen und Ge­be­te, aber for­de­re kein Blut. Mir graut seit­dem vor dem Blu­te, und keins will ich mehr ver­gie­ßen. Nein! nie! kei­nen Trop­fen Blu­tes! Jo­hann Zis­ka wird sei­nen Kelch fort­an nur mit nim­mer ver­sie­gen­den Trä­nen, mit bit­tern Schmer­zens­zäh­ren fül­len.

      Wäh­rend Al­bert dies mit ir­ren Bli­cken, die plötz­lich an­ge­fach­te Glut der Schwär­me­rei in sei­nen Zü­gen, sprach, um­kreis­te er Con­sue­lo und wich je­des Mal mit ei­ner Art Schau­der zu­rück, so oft sie eine Be­we­gung mach­te, die­se selt­sa­me Be­schwö­rung zu un­ter­bre­chen.

      Es be­durf­te für Con­sue­lo kei­ner lan­gen Über­le­gung, um zu er­ken­nen, wel­chem Zuge der Wahn­sinn ih­res Wir­tes folg­te. Sie hat­te sich oft ge­nug Jo­hann Zis­kas Ge­schich­te er­zäh­len las­sen, um zu wis­sen, dass eine Schwes­ter die­ses furcht­ba­ren Fa­na­ti­kers, vor dem Aus­bru­che des Hus­si­ten­krie­ges Non­ne, vor Schmerz und Scham in ih­rem Klos­ter ge­stor­ben war, weil ein schänd­li­cher Mönch ihr Ge­walt an­ge­tan hat­te, und dass Wan­das Tod ge­rächt wor­den war durch eine lang­jäh­ri­ge, glän­zen­de Ra­che. Al­bert, durch ir­gend einen Ge­dan­kenan­klang auf sei­ne Lieb­lings­vor­stel­lung ge­lei­tet, dünk­te sich in die­sem Au­gen­bli­cke Zis­ka und sprach zu ihr als zu dem Schat­ten Wan­das, sei­ner un­glück­li­chen Schwes­ter.

      Sie woll­te ihn aus sei­ner Täu­schung nicht zu plötz­lich rei­ßen.

      – Al­bert, sag­te sie zu ihm, denn du hei­ßest nicht mehr Jo­hann, wie auch ich nicht mehr Wan­da, sieh mich recht an, und er­ken­ne, dass ich ver­wan­delt bin, wie du, in Ge­stalt und Sin­nes­art. Was du so­eben sag­test, dar­an dich zu mah­nen, bin ich her­ge­kom­men. Ja, die Zeit des Ei­fers und der Wut ist vor­über. Der mensch­li­chen Ge­rech­tig­keit ist mehr denn Ge­nü­ge ge­sche­hen und den Tag der gött­li­chen Ge­rech­tig­keit ver­kün­di­ge ich dir nun. Gott will, dass wir ver­ge­ben und ver­ges­sen. Die­se un­se­li­gen Erin­ne­run­gen, die­sen Starr­sinn, wo­mit du eine Gabe in dir pflegst, die er den an­de­ren Men­schen nicht ver­lie­hen hat, die­ses selbst­quä­le­ri­sche schau­ri­ge An­den­ken an die Zei­ten ei­nes frü­he­ren Da­seins will Gott nicht und ent­zieht es dir, weil du es ge­miss­braucht hast. Hörst du mich, Al­bert, und ver­stehst du mei­ne Rede jetzt?

      – O, mei­ne Mut­ter! ant­wor­te­te Al­bert