sah. Nein, ich will mich, sagte sie zu sich, nicht fürchten vor einem so sanften, friedliebenden Wesen. Dies ist die Zelle eines Heiligen, nicht der Kerker eines Verrückten. Je klarer ihr aber die Beschaffenheit seiner Geisteskrankheit wurde, desto mehr fühlte sie sich befangen und verwirrt. Fast bedauerte sie es, nicht lieber einen Geistesabwesenden oder einen Sterbenden zu finden, und die Gewissheit, einem ordentlichen Menschen zu begegnen, hielt sie mehr und mehr zurück.
Sie war schon seit einigen Minuten in ihr Sinnen verloren und wusste nicht, wie sie sich anmelden sollte, als der Klang eines bewundernswürdigen Instrumentes ihr Ohr berührte: es war ein Stradivari, dem eine reine, kundige Hand die Töne einer schwermütig erhabenen, großartigen Melodie entlockte. Nie hatte Consuelo eine so vollkommene Geige gehört, ein so einfaches und ergreifendes Spiel. Die Melodie war ihr fremd, aber nach ihrer eigentümlichen, kunstlosen Führung urteilte sie, dass dieselbe ein höheres Alter haben müsste, als alle ihr bekannte Musik. Sie lauschte mit Entzücken und konnte es sich nun erklären, wie Albert bei den ersten Tönen, die er sie singen hörte, sie sogleich begriffen hatte. Ihm war das Wesen der wahren, der großen Musik aufgegangen. Er war vielleicht kein in jeder Hinsicht gelehrter Musiker, besaß vielleicht nicht alle die Kunstmittel, welche blenden, aber der himmlische Hauch hatte ihn berührt, die Erkenntnis und die Liebe des Schönen.
Als er aufhörte, wollte Consuelo, nunmehr ganz beschwichtigt und von einer lebhafteren Sympathie angezogen, eben an die Tür klopfen, welche ihn noch von ihr trennte, als diese Tür sich langsam öffnete und der junge Graf auf der Schwelle erschien, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden geschlagen, Geige und Bogen in den herabhangenden Händen. Seine Blässe war erschreckend, Kleidung und Haar in einer Unordnung, wie es Consuelo noch nie gesehen hatte. Seine zerstreute Miene, seine gebrochene, schlaffe Haltung, die verzweiflungsvolle Lässigkeit seiner Bewegungen, alles an ihm verriet, wenn nicht gänzliche Bewusstlosigkeit, doch wenigstens Zerrüttung und Verlorenheit des Willens. Man hätte glauben sollen einen jener stummen, der Erinnerung beraubten Geister zu sehen, welche nach dem Glauben der slavischen Stämme, nachts mechanisch in die Häuser kommen und, ihren alten Lebensgewohnheiten und Beschäftigungen ohne Folge und ohne Zweck bewusstlos nachgehend, ihre erschrockenen Freunde und Diener nicht erkennen, noch bemerken, die entweder fliehen oder ihnen starr vor Staunen und Furcht zusehen.
So Consuelo, als sie den Grafen Albert erblickte und bemerkte, dass er sie nicht sah, obgleich er nur zwei Schritte von ihr entfernt war. Ajax war aufgesprungen und leckte seinem Herrn die Hand. Albert redete ihm aus Böhmisch freundlich zu; und mit dem Blicke den Bewegungen des Hundes folgend, der sich mit seinen bescheidenen Liebkosungen zu Consuelo wendete, sah er die Füße des jungen Mädchens scharf an, welche fast wie Zdenko’s Füße bekleidet waren, und sagte, ohne aufzusehen, ein Paar böhmische Worte, die Consuelo nicht verstand, die aber, eine Frage zu sein schienen und mit ihrem Namen endeten.
Als ihn Consuelo in diesem Zustande sah, fühlte sie ihre Furcht verschwinden. Ganz voll Mitleid sah sie jetzt in ihm nur den schmerzlich leidenden Seelenkranken, der nach ihr rief, ohne sie zu erkennen, und ihre Hand fest und vertrauensvoll auf den Arm des jungen Mannes legend, sagte sie auf spanisch mit ihrer reinen, hellen Stimme:
– Da ist Consuelo!
14.
Kaum hatte sich Consuelo genannt, als Graf Albert die Augen aufschlug und ihr ins Gesicht blickte. Haltung und Mienen verwandelten sich plötzlich. Er ließ seine kostbare Geige auf den Boden fallen, so achtlos, als hätte er niemals ihren Gebrauch gekannt, und mit dem Ausdruck eines ehrfurchtsvollen Schmerzes und der tiefsten Rührung seine Hände faltend, rief er aus mit einem Seufzer, welcher seine Brust zu sprengen schien:
– So seh ich dich endlich wieder an dieser Stätte der Verbannung und des Leidens, du meine arme Wanda! Liebe, liebe unglückselige Schwester! Unglückliches Opfer, das ich zu spät rächte, das ich beschützen nicht gekonnt. Ach, du weißt, du weißt es, der Elende, welcher dich misshandelte, ist unter allen Martern umgekommen, und meine Hand hat sich erbarmungslos gebadet in dem Blute seiner Mitschuldigen. Ich schlug ihr tief die Ader, der heillosen Kirche. In Strömen Blutes wusch ich den Schimpf ab, deinen Schimpf, den meinen und den Schimpf meines Volkes. Was willst du mehr, friedlose, rachefordernde Seele? Die Zeit des Eifers und des Zornes ist vorbei, der Tag der Reue und der Sühne ist gekommen, Fordere von mir Tränen und Gebete, aber fordere kein Blut. Mir graut seitdem vor dem Blute, und keins will ich mehr vergießen. Nein! nie! keinen Tropfen Blutes! Johann Ziska wird seinen Kelch fortan nur mit nimmer versiegenden Tränen, mit bittern Schmerzenszähren füllen.
Während Albert dies mit irren Blicken, die plötzlich angefachte Glut der Schwärmerei in seinen Zügen, sprach, umkreiste er Consuelo und wich jedes Mal mit einer Art Schauder zurück, so oft sie eine Bewegung machte, diese seltsame Beschwörung zu unterbrechen.
Es bedurfte für Consuelo keiner langen Überlegung, um zu erkennen, welchem Zuge der Wahnsinn ihres Wirtes folgte. Sie hatte sich oft genug Johann Ziskas Geschichte erzählen lassen, um zu wissen, dass eine Schwester dieses furchtbaren Fanatikers, vor dem Ausbruche des Hussitenkrieges Nonne, vor Schmerz und Scham in ihrem Kloster gestorben war, weil ein schändlicher Mönch ihr Gewalt angetan hatte, und dass Wandas Tod gerächt worden war durch eine langjährige, glänzende Rache. Albert, durch irgend einen Gedankenanklang auf seine Lieblingsvorstellung geleitet, dünkte sich in diesem Augenblicke Ziska und sprach zu ihr als zu dem Schatten Wandas, seiner unglücklichen Schwester.
Sie wollte ihn aus seiner Täuschung nicht zu plötzlich reißen.
– Albert, sagte sie zu ihm, denn du heißest nicht mehr Johann, wie auch ich nicht mehr Wanda, sieh mich recht an, und erkenne, dass ich verwandelt bin, wie du, in Gestalt und Sinnesart. Was du soeben sagtest, daran dich zu mahnen, bin ich hergekommen. Ja, die Zeit des Eifers und der Wut ist vorüber. Der menschlichen Gerechtigkeit ist mehr denn Genüge geschehen und den Tag der göttlichen Gerechtigkeit verkündige ich dir nun. Gott will, dass wir vergeben und vergessen. Diese unseligen Erinnerungen, diesen Starrsinn, womit du eine Gabe in dir pflegst, die er den anderen Menschen nicht verliehen hat, dieses selbstquälerische schaurige Andenken an die Zeiten eines früheren Daseins will Gott nicht und entzieht es dir, weil du es gemissbraucht hast. Hörst du mich, Albert, und verstehst du meine Rede jetzt?
– O, meine Mutter! antwortete Albert