der hundert Mal mit Tränen in den Augen versichert hat, wie leid es ihm tue, dass er nicht an die Front dürfe, sondern nach dem Befehl des Führers auf seinem ländlichen Posten ausharren müsse – der »richtige« Lehrer Schwoch also ist nun doch trotz aller ärztlichen Atteste zur Wehrmacht eingezogen worden. Das ist nun fast ein halbes Jahr her. Aber der Weg zur Front muss für diesen Kampfbegeisterten schwierig sein: vorläufig sitzt der Lehrer Schwoch noch immer als Schreiber auf einer Zahlmeisterstube. Öfter fährt Frau Schwoch mit Speck und Schinken zu ihrem Mann, aber der Mann isst wohl nicht alleine diese köstlichen Fettigkeiten: Es habe geklappt, jetzt würde ihr guter Walter Unteroffizier, hat Frau Schwoch nach ihrer letzten Speckreise verkündet. Unteroffizier – wo doch nach einem Befehl des Führers Beförderungen nur bei der kämpfenden Truppe erfolgen durften. Aber für glühende Parteigenossen mit Schinken und Speck gelten solche Führerbefehle natürlich nicht.
Nun, Frau Eva Kluge ist das gleichgültig. Sie weiß jetzt genau, wie das alles ist, seit sie aus der Partei ausgetreten ist. Jawohl, sie war in Berlin; als sie wieder die nötige innere Ruhe gewonnen hatte, fuhr sie nach Berlin und stellte sich dem Parteigericht und dem Postamt. Es waren keine angenehmen Tage gewesen, bei Weitem nicht, sie war angebrüllt, bedroht und während ihrer fünftägigen Haft auch einmal verprügelt worden, das KZ war ihr nahe gewesen – aber schließlich hatte man sie laufenlassen. Staatsfeindin – nun, sie würde es ja eines Tages noch erleben, was sie davon hatte.
Eva Kluge hatte ihren Hausstand aufgelöst. Vieles hatte sie verkaufen müssen, denn im Dorf hatte man ihr nur eine Stube bewilligt, aber sie wohnte jetzt für sich allein. Sie arbeitete auch nicht mehr bloß für den Schwager, der ihr am liebsten nur die Kost und nie Geld gegeben hätte, sie sprang überall bei den Bauern ein. Sie machte nicht nur Feld- und Hofarbeit, sondern betätigte sich auch als Krankenpflegerin, als Näherin, als Gärtnerin, als Schafschererin. Sie hatte geschickte Hände, eigentlich war es nie so, als wenn sie etwas Neues lernte, sondern als erinnere sie sich nur einer lange nicht ausgeübten Arbeit. Die steckte ihr im Blut, die Landarbeit.
Aber dieses ganze kleine, nun friedvolle Leben, das sie sich da in all dem Zusammenbruch aufgerichtet hatte, bekam erst sein rechtes Licht und seine Freude durch den stellvertretenden Lehrer Kienschäper. Kienschäper war ein langer, immer etwas vornübergebeugt gehender Mann ausgangs der Fünfziger, mit weißen, flatternden Haaren und einem sehr braunen Gesicht, in dem junge blaue Augen lächelten. So wie Kienschäper die Kinder des kleinen Dorfes mit diesen lächelnden blauen Augen bändigte und sie aus der zackigen Erziehung seines Vorgängers in etwas menschlichere Gefilde führte, so wie er, mit einer Baumschere bewaffnet, durch die Bauerngärten ging und die wildwachsenden Obstbäume von Wasserschossen und totem Holz befreite, Krebswunden ausschnitt und mit Karbolineum verstrich – so hatte er auch die Wunden Evas geheilt, Bitterkeit aufgelöst, ihr Frieden gebracht.
Nicht grade, dass er viel darüber gesprochen hätte, Kienschäper war kein großer Redner. Aber wenn er mit ihr auf seinem Bienenstand war und von dem Leben der Bienen erzählte, die er leidenschaftlich liebte, wenn er mit ihr abends durch die Felder ging und ihr zeigte, wie liederlich dieser Acker bestellt war und mit wie wenig Arbeit er wieder ertragreicher zu machen wäre, wenn Kienschäper einer Kuh beim Kalben half, einen umgefallenen Zaun, ohne gebeten zu sein, wieder aufrichtete, wenn er an der Orgel saß und sachte nur für sie und sich spielte, wenn alles hinter seinen Schritten geordnet und friedlich erschien – so tat das für Evas Befriedung mehr als alle tröstenden Worte. Ein sich neigendes Leben in einer Zeit voller Hass, Tränen und Blut, aber friedevoll, Frieden atmend.
Die Lehrersfrau Schwoch, die noch nationalsozialistischer war als ihr kriegsbegeisterter Mann, hasste natürlich sofort diesen Kienschäper und tat ihm alles zum Tort, was ihrem gehässigen Hirn nur einfiel. Sie hatte den Stellvertreter ihres Mannes zu behausen und zu beköstigen, aber sie tat es mit solch genauer Berechnung, dass Kienschäper vor dem Schulanfang nie ein Frühstück bekam, dass sein Essen stets angebrannt war, seine Stube aber nie gesäubert.
Doch gegen seine heitere Gelassenheit war sie machtlos. Sie konnte sich erhitzen, stürmen, geifern, Übles von ihm reden, an der Tür des Klassenzimmers lauschen und dann beim Schulrat Denunziationen vorbringen – unverändert sprach er mit ihr wie mit einem ungezogenen Kind, das seine Unarten eines Tages schon von selbst einsehen wird. Und schließlich gab sich Kienschäper bei Frau Eva Kluge in Kost, zog ins Dorf, und die fette, zornige Schwoch konnte ihren Krieg nur noch aus der Ferne gegen ihn führen.
Wann Frau Eva Kluge und der weißhaarige Lehrer Kienschäper zuerst davon gesprochen hatten, dass sie eigentlich heiraten könnten, wussten beide nicht. Vielleicht hatten sie auch nie davon gesprochen. Es hatte sich ganz von selbst ergeben. Sie hatten es auch nicht eilig damit – eines Tages, irgendwann, würde es so weit sein. Zwei alternde Leute, die keinen einsamen Feierabend haben wollten. Nein, keine Kinder mehr, nie wieder Kinder – davor schauderte Frau Eva. Aber Kameradschaft, verstehende Liebe und vor allem Vertrauen. Sie, die in ihrer ganzen ersten Ehe nie hatte vertrauen dürfen, sie, die immer hatte führen müssen, sie will sich jetzt die letzte Lebensstrecke vertrauensvoll führen lassen. Als es ganz dunkel war, da, als sie völlig verzagt war, da trat noch einmal die Sonne durch die Wolken.
Der rote Weiderich liegt am Boden, fürs Erste ist er einmal ausgerottet. Gewiss, er wird nachwachsen, das ist so ein Unkraut, das muss man beim Pflügen aus der lockeren Erde sammeln, jedes unterirdische Wurzelstückchen treibt immer wieder neu aus. Aber Frau Eva kennt jetzt diese Stelle, sie wird sie nicht vergessen, sie wird so lange hierhergehen, bis der Weiderich völlig ausgerottet ist.
Eigentlich könnte sie jetzt frühstücken, es wäre Zeit dafür, ihr Magen sagt es auch. Aber als sie zu den im Schatten des Waldrandes hingelegten Broten und ihrer Kaffeeflasche hinblickt, sieht sie, dass sie nicht frühstücken wird, heute nicht, ihr Magen hat still zu sein. Denn da ist schon einer am Werk, ein vielleicht vierzehnjähriger Junge, unglaublich abgerissen und verdreckt, und er schlingt an ihren Broten, als sei er dem Verhungern nahe gewesen.
So sehr ist dieser Junge mit seiner Sättigung beschäftigt, dass er gar nicht darauf achtet, wie die Hacke im Unkrautacker still geworden ist. Er fährt erst zusammen, als die Frau direkt vor ihm steht, und starrt sie mit großen blauen Augen unter seinem verfilzten Schopf blonder Haare an. Obwohl er nun beim Stehlen erwischt und die Flucht nicht mehr nötig ist, blickt der Bengel nicht angstvoll oder schuldbewusst, sondern sein Auge sieht eher herausfordernd drein.
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