oft nicht stören. Milchen hat meine ersten Kindertränen getrocknet. Sie hat mich beten gelehrt. Ach, Milchen ist für mich so unendlich viel.«
»Und Ihr Vater?« Hollweg stockt der Atem, als er die Frage gestellt
hat.
»Mein Vater?« Stefanie sinnt hinter diesem Wort her. Herb antwortet sie. »Ich habe ihn nie gekannt. Ich weiß nichts von ihm, gar nichts«, ihre Stimme sinkt zu einem Flüstern herab, »außer, daß sich meine Eltern getrennt haben und daß er meine Mutti in eine grenzenlose Einsamkeit gestürzt hat. Erst nach Muttis Tod habe ich es erfahren, bis dahin war er tot für mich.«
»Er lebt noch?« Immer weiter tastet Hollweg sich vor.
»Ja«, sagt sie kurz und abweisend, aber Hollweg bleibt nicht auf halbem Wege stehen.
»Sie – hassen ihn?«
Stefanie hüllt sich zunächst in Schweigen, und Hollweg wartet geduldig, bis sie bereit ist zu sprechen.
Endlich hört er sie leise sprechen.
»Ich – ich glaubte das.« Hollweg sieht auf ihre schönen schmalen Hände, die still in ihrem Schoß liegen. »Seitdem ich hier bin und Sie mich betreuen, habe ich viel über meinen Vater nachgedacht. Er ist nämlich auch Arzt, müssen Sie wissen. Sie lieben doch Ihren Beruf, nicht wahr?«
»Sehr«, stimmt er aus tiefstem Herzen bei.
»Vielleicht hat mein Vater seinen Beruf genauso sehr geliebt, und meine Mutter war – eifersüchtig?«
Hollwegs Herz hämmert. Bis in die Schläfen spürt er seinen Schlag. Er möchte die sprechenden Hände ergreifen und sie an sich pressen. Überhaupt die ganze schmale, hilflose Gestalt väterlich in seine Arme, an sein Herz nehmen. Doch er verharrt stumm. Nicht einmal ahnen kann sie, was sie ihm mit ihren Worten gibt, Frieden und Ruhe, denn er spürt mächtig, daß sie auf dem besten Weg ist, ihm zu verzeihen, ihm zumindest Gerechtigkeit widerfahren zu las-
sen.
Ist das nicht schon sehr, sehr viel?
Er faßt nach ihrem Puls.
»Hat Sie der Besuch auch nicht zu sehr erregt?«
»Hoffentlich nicht«, bemerkt sie erschrocken. »Ich meine, Freude könnte ich sehr viel vertragen.«
»Auch Freude kann einen Menschen umwerfen«, gibt er zu bedenken. »Vor allem, wenn man mit seinem Herzen an allem beteiligt ist wie Sie.«
»Wie gut Sie mich verstehen.« Sie überläßt ihm ihre Hand. »Jetzt sehe ich Sie ganz deutlich vor mir, ja, ganz gewiß. Ihre klaren, ernsten Augen und das kleine, beruhigend wirkende Lächeln um den Mund. Sie sind jedenfalls nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein gütiger Mensch.«
Kein größeres Lob könnte sie ihm ausstellen. Ihre Worte erschüttern ihn, und er flüchtet sich hinter einen Scherz.
*
»Du willst also morgen die Opera-tion wagen?« beginnt Martin Bergmann, der sich immer im Hintergrund gehalten und nur die Berichte des Freundes mit größtem Interesse gelesen hat. »Das Krankheitsbild ist allerdings so, daß der günstigste Augenblick gekommen ist. Soll ich dir assistieren?«
»Ich habe damit gerechnet.«
Ehe Bergmann antworten kann, läutet das Telefon.
»Ein Telegramm für dich, Clemens«, sagt er, die Muschel des Apparates zuhaltend. »Soll es durchgegeben werden?«
»Bitte!«
Hollweg schiebt dem Freund Block und Bleistift zu, und dieser notiert.
Habe keine Ruhe. Eintreffe Mittwoch. Titanus.
Bergmann legt auf.
»Unangenehme Nachricht?« erkundigt er sich und beobachtet den Freund, in dessen Gesicht es arbei-
tet.
»Ich glaube, gute. Es handelt sich um Stefanie. Sie liebt meinen besten Mitarbeiter, Doktor Titanus.«
»Dann ist ja alles in bester Ordnung, Clemens. Ich habe in dieser Hinsicht wahre Wunder in meiner Praxis erlebt. Immer war es die Liebe, die zur Heilung beigetragen hat.«
Hollweg erhebt sich.
»Ich werde zum Flughafen fahren. Titanus muß mit einer der nächsten Maschinen aus Rom eintreffen.«
»Mein Wagen steht dir zur Verfügung, Clemens. Du brauchst nur anzurufen.«
»Danke, Martin.« Sie schütteln sich die Hände. »Also auf morgen.«
Während der Fahrt überlegt Hollweg. Ist es besser, Philipp sucht heute noch Stefanie auf? Soll er warten, bis die Operation vorbei ist? Er ist ratlos und unentschlossen wie nie.
Zuletzt entscheidet er sich dafür, Philipp wählen zu lassen.
*
Keller ist sehr guter Laune. Das Bild Ulla Döhners macht gute Fortschritte. Ihr Geplapper, das wie ein munteres Bächlein fließt, läßt er ungehemmt plätschern.
Manchmal wirft er eine seiner witzigen Bemerkungen dazwischen, dann lacht die Frau perlend auf. Jedesmal durchfährt es Maritta, die sich in den anschließenden Salon mit einem Buch zurückgezogen hat, schmerzhaft.
Sie fiebert dem Ende der Sitzung entgegen, und als sie den Wagen davonfahren hört und Keller zu ihr kommt, sieht sie aufatmend zu ihm auf.
»Endlich!«
»Du bist doch nicht eifersüchtig auf die kleine eitle Frau?« fragt er amüsiert.
Sie macht eine verächtliche Handbewegung.
»Dummheit, Thomas. Ich muß mit dir sprechen. Die Sitzung hat mir einfach zu lange gedauert. Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.«
»Schade, und ich dachte, du wärest eifersüchtig.« Er lehnt sich über den Sessel. Sein Atem streift ihre Wange. »Du hast mir lange nicht gesagt, daß du mich noch liebst.«
»Kindskopf.« Wie sie es so gern tut, fährt sie ihm durch den dichten Haarschopf. »Also, ich liebe dich. Nun aber ganz ernst, Thomas. Hollweg hat angerufen, Stefanie wird morgen ope-riert.«
Er stößt einen kleinen Überraschungslaut aus.
»Wollen wir nach München fahren?« fragt er.
Sie schüttelt heftig den Kopf.
»Das halte ich für zwecklos, Thomas. Wir können Stefanie doch sowieso nicht gleich nach der Operation sehen.«
»Richtig«, stimmt er zu. »Also heißt es wieder warten.«
Jetzt gewahrt er Tränen in ihren schönen, grünlich schimmernden Augen.
»Keine Bange, Kind. Hollweg ist eine Kapazität. Auf ihn kann man sich verlassen. Ich gebe zu, der morgige Tag wird für uns alle zur Qual wer-den.«
*
Schwester Elisabeth hat soeben Stefanie gebettet, die Blumen aus dem Zimmer entfernt, die Professor Hollweg immer wieder angeschleppt bringt, obwohl sie nur ihren Duft atmen kann.
Schritte nähern sich der Tür. Stefanie hebt lauschend den Kopf. Sie ist äußerst hellhörig geworden. Sie unterscheidet den Schritt des Professors – und dann noch einen anderen.
Sie hört, wie sich die Tür öffnet und wieder schließt. Jemand nähert sich ihrem Bett. Sie hält den Atem an, sie möchte etwas sagen. Aber sie bringt keinen Laut hervor.
Eine geliebte, vertraute Stimme schlägt an ihr Ohr.
»Stefanie, Liebes, Geliebtes!«
Lachend und weinend ruht sie an seinem Herzen, fühlt sich von seinen starken Armen umschlungen und an seine Brust gepreßt. Alles ist wie damals am See, nur noch viel schöner.
Hollweg ist ans Fenster getreten. Er verhält sich ruhig und abwartend.
»Phil, lieber Phil.«