Ich danke dir tausendmal, daß du mich vor dem Entsetzlichen bewahrt hast! Beinahe wäre ich fahnenflüchtig geworden –!«
»Vater!« mahnte Jutta leise, als dieser nun wieder gedankenverloren vor sich hinstarrte.
Und er begann zu sprechen, zuerst stockend, dann freier werdend, und Jutta hörte zu. In ihren Augen stand das Grauen, als seine Rede mit folgenden Worten schloß:
»Und so habe ich mir nach und nach die Leitung aus den Händen nehmen lassen. Immer wieder hat Tante Hermine den Rat gegeben, ich hätte es nicht nötig zu arbeiten; Direktor Pegau sei der zuverlässigste Mensch, den es nur geben kann – und sie hat auch recht. Ich kann mich ganz auf ihn verlassen, schließlich trägt er doch keine Schuld daran, daß unsere Spekulation fehlgeschlagen ist. Jedenfalls stehen wir vor dem Zusammenbruch. Bis morgen mittag müssen dreihunderttausend Mark beschafft werden! Ullrich Andersen hat die Frist schon einmal verlängert, doch er scheint aufmerksam geworden zu sein, denn als letzten Termin hat er den fünfzehnten Juni gestellt – und der ist morgen. Ich bin ruiniert – weiß keinen Ausweg mehr!
Nun wirst du mich verstehen, Jutta, und mich verachten, weil ich so schwach war und aus dem Leben gehen wollte.«
»Vater, davon wollen wir nicht mehr sprechen«, unterbrach Jutta die Selbstanklage des Vaters. Dann blickte sie sinnend ins Leere. Ihre Gedanken hetzten wild durcheinander. Wo gab es einen Ausweg? Er mußte gefunden werden! Dem Vater Vorwürfe machen, war zwecklos, obwohl er nicht schuldlos war. Sie hatte von vornherein gegen Direktor Pegau Zurückhaltung geübt – niemals hatte sie verstehen können, warum Tante Hermine diesen unterwürfigen Menschen so schätzte.
»Vater!« Ihre Stimme zitterte leise. »Du kennst doch Ullrich Andersen – geh nochmals zu ihm – vielleicht hilft er dir.«
»Ausgeschlossen, Jutta. Niemals wird Ullrich Andersen mein unverantwortliches Handeln unterstützen!«
»Wer ist Ullrich Andersen?« fragte Jutta, deren Interesse geweckt war.
»Ullrich Andersen?« Bernhard Dahlen sprach völlig ohne Bewegung »Man erzählt, daß er ungeheuer reich sein soll, jedoch ein bescheidenes Leben führt. Man sagt, er kenne nichts als seineArbeit – und als Liebhaberei dichtet man ihm eine grenzenlose Liebe zu Tieren an. Er unterhält einen kostspieligen Tierpark auf seinem Gut in der Mark.«
»Große Liebe zu Tieren?« Gedankenvoll sagte es Jutta vor sich hin.
»Aber – warum erkundigst du dich mit so offensichtlichem Interesse nach diesem Manne?«
»Warum?« Langsam stand Jutta auf. »Weil ich ihn aufsuchen werde.«
Fassungslos blickte Dahlen auf sein Kind.
»Gib dein Vorhaben auf, ich bitte dich, es würde nur eine Demütigung für dich werden!«
»Ich gehe doch, Vater! Ein Mensch, der Tiere über alles liebt, muß auch ein Herz für seine Mitmenschen haben!«
Dahlen gab keine Antwort. Er grübelte. Sein Kind sollte er diesen schweren Gang gehen lassen? War das nicht ein neuer Beweis seiner Schwäche? Aber er würde nicht viel ausrichten können. Stellte sich Jutta Widerstand entgegen, wurde sie leicht trotzig – und es würde auch diesmal so sein.
So sagte er denn ergeben:
»Ich weiß, daß ich dich nicht zurückhalten kann; doch ich prophezeie dir: elender, als du jetzt bist, wirst du wiederkommen!«
Jutta fühlte deutlich: der Vater malte ihr das Vorhaben absichtlich so schwarz. Aber es gab kein Zurück – nun erst recht nicht! Ohne auf seinen Einwand einzugehen, fragte sie:
»Und wo trifft man Ullrich Andersen?«
»In Berlin, in der Andersen-Bank.«
*
Nun war Jutta in Berlin und ließ sich von einem Taxi nach dem »Esplanade« fahren.
Dann verließ Jutta das Hotel und ließ sich von einem Taxi zur Andersen-Bank bringen.
Dort angekommen, betrachtete sie mit bangen Augen den riesigen Bau.
Ehrfurcht beschlich sie, als sie kurz darauf durch die Drehtür in das Innere trat und sich an den Pförtner wandte.
»Ich möchte Herrn Andersen sprechen.«
»Das wird schwerhalten«, sagte er kurz und kratzte sich hinter dem Ohr.
Jutta brachte ihre Bitte noch einmal vor, diesmal in bestimmterem Ton.
Da verwies der Mann sie weiter, und es gelang ihr endlich, zu der Sekretärin Andersens vorzudringen.
Erst hier nannte sie ihren Namen und trug ihr Anliegen nochmals vor.
Auch die Sekretärin zeigte Erstaunen.
Seit wann hatte der Chef Damenbekanntschaften?
Doch sogleich schämte sie sich ihrer Gedanken. Etwas im Wesen des schönen Mädchens rührte sie, und freundlich sagte sie:
»Das tut mir leid, Herr Andersen ist verreist.«
»Verreist?« Juttas Stimme war ohne jeden Klang.
»Ja, Fräulein Dahlen, es ist auch sehr unbestimmt, wann er wieder in Berlin sein wird.«
In diesem Augenblick rasselte der Fernsprecher.
»Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick«, bat die Sekretärin Jutta. Doch als sich Fräulein Keßler nach Beendigung des Ferngespräches umwandte, hatte Jutta das Zimmer bereits verlassen.
Verreist – verreist!
Ihre Reise war umsonst – umsonst ihr schöner Plan!
Wie gehetzt irrte sie durch die Straßen und bemerkte nicht, daß ihr ein Mann folgte.
Gerade als sie aus der Andersen Bank getreten war, war Klaus Heimburg vorübergegangen, und sofort fiel ihm das verstörte junge Mädchen auf.
Aber er mußte tüchtig achtgeben, damit er sie nicht aus den Augen verlor.
Dann kam eine Straßenkreuzung! Eben verschwand das rote Licht – da schrie er leise auf.
Jutta lief geradewegs in einen Wagen hinein, wurde im letzten Augenblick von einem Fußgänger zurückgerissen.
Mit starkem Bremsen stand der Wagen. Der Chauffeur stieg aus. Ein Schutzmann nahte.
Halb ohnmächtig lehnte Jutta an der Seite des älteren Herrn, der den Arm um das zitternde Mädchen gelegt hatte.
Der Chauffeur zeigte seine Papiere vor, und die Umstehenden bezeugten, daß Jutta in den Wagen gelaufen war.
Der einzige Insasse des schweren Reisewagens wurde aufmerksam. Sein Blick fiel auf Jutta. Hastig beugte er sich vor. Er sah in ein paar entsetzte, unnatürlich weit geöffnete blaue Augen; unter einem weißen Hut quollen blonde Locken hervor. Reizvoll umgaben diese ein bleiches, feingeschnittenes Mädchengesicht.
In diesem Augenblick fuhr sein Wagen weiter, und er wurde in seiner Betrachtung gestört. War es möglich? Gab es solch eine Ähnlichkeit?
Jutta aber riß sich los, als sie den Schutzmann auf sich zukommen sah, und floh den Weg zurück, den sie gekommen war.
Enttäuscht sah Klaus Heimburg ihr nach. Dann folgte er ihr schnell. Er hatte sie jedoch bereits aus den Augen verloren.
Jutta lief immer weiter. Sie ahnte nicht, daß sie beinahe in den Wagen des Mannes gelaufen wäre, den sie so sehnlichst herbeiwünschte: Ullrich Andersen.
Vor einem kleinen Café machte sie halt. Sie mußte unbedingt etwas Stärkendes zu sich nehmen.
In eine Ecke setzte sie sich und bestellte einen Kaffee und einen Kognak.
In einem Zug stürzte sie das scharfe Getränk hinunter und fühlte, wie allmählich das Zittern in den Beinen nachließ.
Zehn helle Schläge gab die Uhr von sich, die in ihrer Nähe hing.
Noch