der Fair Presentation nach IFRS mit der breiten, anspruchsvoll klingenden Formulierung der „tatsächlichen Verhältnisse“ (IAS 1.15) inhaltlich zu konkretisieren ist.131 Da die vorliegende Fallgestaltung jedoch keineswegs ein äußerst seltener Fall, sondern vielmehr ein sehr typisches Beteiligungsverhältnis ist, kommt eine Durchbrechung der Einzelvorschrift des IFRS 9 durch M nicht in Frage.
cc) Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise gemäß IFRS-Rahmenkonzept
Ordelheide/Böckem kamen in einer Altauflage des Kommentars „Rechnungslegung nach International Financial Reporting Standards“ für den vorliegenden Sachverhalt gegen den angeführten IFRS-Wortlaut im Ergebnis dennoch zu einer Bejahung der phasengleichen Dividendenvereinnahmung.132 Dem schloss sich damals das IDW in seiner „Stellungnahme zur Rechnungslegung: Einzelfragen der Rechnungslegung nach IFRS“ (IDW RS HFA 2) an.133 Ordelheide/Böckem und ähnlich das IDW begründeten das Ergebnis mit der „die IAS beherrschenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise“: Ein „eng ausgelegtes formalrechtliches Objektivierungskriterium vernachlässigt sich ergebene Inkonsistenzen zu anderen, in weitaus geringerem Maße objektivierten IAS-Grundsätzen zur Ertragsrealisierung“.134
Man muss hierbei freilich festhalten, dass es sich im eigentlichen Sinne nicht etwa um eine „Auslegung“ einer regelungsunscharfen Norm handelt, sondern um eine „teleologische Reduktion“135 des regelungsscharfen Wortlauts von IFRS 9 (bzw. des mittlerweile ersetzten IAS 18). Denn es ist unklar, ob man die allgemeinen, breiteren und einer Auslegung zugänglichen Umsatzerfassungskriterien des IFRS 15 tatsächlich über die Einzelregelung für Dividendenerträge stellen kann; in gewisser Weise spricht die innere Logik der IFRS dagegen, auch wenn in der jüngeren Vergangenheit die sog. „Prinzipienorientierung“ der IFRS betont wurde. Letztere entstammt aber weniger den Standards selbst; ihre Reichweite muss folglich sehr umstritten bleiben.136 Die von der Literatur angeführte wirtschaftliche Betrachtungsweise (eigentlich: „substance over form“) ist zwar im Rahmenkonzept verankert (RK.2.12), das Rahmenkonzept selbst stellt aber keinen IFRS dar und ist im Falle von Inkonsistenzen mit Einzelstandards stets nachrangig (RK.SP1.2); es wurde zudem nicht im Rahmen des IFRS-Endorsement in EU-Recht übernommen. Ob die wirtschaftliche Betrachtungsweise tatsächlich die IFRS insgesamt prägt, ist fraglich. Zumindest ist das Kriterium aber auch zu regelungsunscharf, um für den Fall eine klare Lösung, insbesondere eine solche gegen den Wortlaut, favorisieren zu lassen. Insofern ist es auch wenig überraschend, dass beide Literaturmeinungen zwischenzeitlich wieder zurückgenommen wurden, was vom IDW etwa mit der Ablehnung der phasengleichen Dividendenvereinnahmung „in der internationalen Diskussion“ begründet wird.137
4. Ergebnis nach IFRS
Der Wortlaut des IFRS 9 zur erfolgswirksamen Erfassung von Dividendenforderungen schließt eine Vereinnahmung der Dividenden der T zum Abschlussstichtag der M aus; der in der Literatur teilweise vertretenen Bejahung der phasengleichen Dividendenvereinnahmung auch nach IFRS ist nicht zuzustimmen.
III. Gesamtergebnis
1. Die beiden Schutzzwecke der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung sind primär die Gewinnanspruchsermittlung (Gewinnermittlungs-GoB) und subsidiär die Informationsvermittlung (Informations-GoB). Da für die beiden kardinalen Bilanzzwecke jeweils unterschiedliche Interessen festgestellt werden können (Mindestausschüttung versus Höchstausschüttung; Mindesteinblick versus Höchsteinblick), sind (gesetzgeberische) Wertungen und ihr Nachvollzug nötig.
2. Das handelsrechtliche System der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung wird gegliedert in das Vermögensermittlungsprinzip und Gewinnermittlungsprinzip. Das System ist aufgrund seines normativen Charakters lückenlos. Das Vermögensermittlungsprinzip schließt den Ansatz von Verrechnungsposten aus und konkretisiert mit seinen Folgeprinzipien den Gewinn als objektivierten Reinvermögenszugang durch Einzelbewertung. Das Gewinnermittlungsprinzip (und seine Folgeprinzipien) dienen der Ermittlung eines umsatzgebundenen und verlustantizipierenden Gewinns (Realisationsprinzip).
3. GoB sind Rechtsnormen; sie werden in wirtschaftlicher Betrachtungsweise (teleologisch) gewonnen (Wertungsnotwendigkeit). Die alte Lehre, die auch auf die Kaufmannsübung abstellte, gilt als überwunden. Aus der Rechtsnormqualität folgt unmittelbar auch die Kompetenz zur GoB-Bestimmung, die beim Gesetzgeber und, ersatzweise, der Rechtsprechung liegt. Standardisierungsausschüssen und der Wissenschaft kommt eine wichtige ergänzende Funktion zu – nicht indes eine dominante.
4. Nach handelsrechtlichen GoB ist im vorliegenden Sachverhalt eine phasengleiche Dividendenaktivierung verpflichtend: Der Gewinnverwendungsbeschluss der T vor Abschluss der Prüfung der M erhellt die zum Abschlussstichtag bereits dem Ansatz nach bestehende (gewinnrealisierende) Forderung. Allerdings ist der Dividendenertrag in eine ausschüttungsgesperrte Rücklage einzustellen, bis der Rechtsanspruch auf Zahlung entsteht. Den anderslautenden Literaturmeinungen ist nicht zu folgen, weil sie die gesetzlich verankerte Ausschüttungssperre gegen den vom EU-Richtliniengeber intendierten Zweck auslegen und ihnen zudem keine Rechtsnormqualität zukommt.
5. Der Konzernabschluss kapitalmarktorientierter Unternehmen ist nach IFRS aufzustellen; für alle anderen Konzernabschlüsse besteht ein Wahlrecht. Der zentrale Schutzzweck der IFRS im geltenden Bilanzrecht ist die Konkretisierung von Informationspflichten im Konzern. Im Jahresabschluss können die IFRS nicht für Offenlegungszwecke angewandt werden; für Zwecke der Gewinnanspruchsermittlung sind bei allen Kaufleuten nur die handelsrechtlichen GoB relevant.
6. IFRS werden von dem privatwirtschaftlich organisierten IASB unter Einbezug der interessierten Öffentlichkeit geschaffen und haben dementsprechend originär Fachnormcharakter. Durch die Übernahme in EU-Recht erlangen sie aber faktisch Rechtsnormqualität. Als Deduktionsbasis dient im Rahmen der Standardsetzung das Rahmenkonzept für die Rechnungslegung. Aufgrund der Auslegungsoffenheit der dort verankerten Konzepte ist es in der Vergangenheit nicht gelungen, Widersprüche und Inkonsistenzen innerhalb der IFRS zu vermeiden.
7. Dividendenforderungen sind nach IFRS 9 erst mit ihrer rechtlichen Vollentstehung zu vereinnahmen. Wertaufhellungsvorschriften, das Gebot der Fair Presentation sowie auch der Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise berechtigen nicht zu einer Abweichung vom Wortlaut und somit einer phasengleichen Dividendenvereinnahmung.
Weiterführende Literatur
HGB: | |
Beisse, Heinrich, | Rechtsfragen der Gewinnung von GoB, BFuP, 42. Jg. (1990), S. 499–514 |
Döllerer, Georg, | Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, deren Entstehung und Ermittlung, BB, 14. Jg. (1959), S. 1217–1221 |
Euler, Roland, | Das System der Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, Stuttgart 1996 |
Moxter, Adolf, | Bilanzlehre, Bd. I: Einführung in die Bilanztheorie, 3. Aufl., Wiesbaden 1984, S. 149–165 |
Moxter, Adolf, | Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, Düsseldorf 2003, S. 3–61 |
IFRS: | |
Jödicke, Ralf, | Regelungslücken nach IFRS/IAS: Vorgehensweise und empirische Analyse am Beispiel von Stock Options und Versicherungsverträgen, Dissertationsschrift, Bochum 2008, S. 7–108 |
Wüstemann, Jens/Wüstemann, Sonja, | in: Claus-Wilhelm Canaris/Mathias Habersack/Carsten Schäfer (Hrsg.), Staub Handelsgesetzbuch Großkommentar, Bd. 6, 5. Aufl., Berlin/Boston 2011, Anhang IFRS: Begriff und Ermittlung der IFRS |
Ernst & Young (Hrsg.), | International GAAP 2017, Chichester (West Sussex) 2017, Chapter 2: The IASB’s Conceptual Framework |
1 Vgl. Moxter, Entziehbarer Gewinn?, in: Ballwieser/Moxter/Nonnenmacher (Hrsg.), FS Clemm (1996), S. 231. 2 Vgl. Döllerer, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, deren Entstehung und Ermittlung, BB 1959, S. 1217 (S. 1219). 3