Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Ingo Trinklein sagte, an den Weihnachtsmann würden nur Babys glauben. Ich sollte mal überlegen, zu wievielen Familien der hinmüßte, um alle Geschenke abzugeben. Das gehe gar nicht.

      Als Hausaufgabe hatten wir aufgekriegt: Am Christbaum sind Kerzen, am Christbaum sind Herzen, am Christbaum sind Sterne, am Christbaum sind Kugeln. Mama lobte mich dafür, daß ich die Hausaufgaben immer sofort nach der Schule machte. Volker hatte sich das schon lange abgewöhnt.

      Nulfi petzte Frau Kahlfuß, daß Ingo und ich seinen einen Handschuh über die Mauer aufs Kasernengelände geworfen hatten, und da mußten wir zur Kaserne gehen und den Handschuh wiederholen.

      Am Kasernentor stand ein Soldat. Dem sagten wir, daß wir für unsere Lehrerin einen verlorengegangenen Handschuh wiederfinden müßten. Dann kam ein anderer Soldat, dem wir die Stelle zeigen sollten, wo der Handschuh lag. Wir gingen an der Schranke vorbei in die Kaserne zur Mauer. Nulfis roter Handschuh war schon von weitem zu sehen.

      In der Klasse waren Ingo und ich jetzt die einzigen, die schon mal in der Kaserne gewesen waren, und wir erzählten den anderen, daß da Panzer geschossen hätten.

      Wenn ich selbst einen Handschuh verloren hatte, schickte Mama mich jedesmal gleich wieder los, den Handschuh suchen. Einmal mußte ich fast bis zur Schule zurück. Da lag der Handschuh am Straßenrand im Schneematsch.

      Als ich ein anderes Mal den Handschuh nicht finden konnte, wollte Mama, daß ich nochmal losgehe und den Hausmeister frage. Bei dem würden alle Fundsachen abgegeben.

      Ich trödelte, und es fing schon an, dunkel zu werden, als ich bei der Schule ankam.

      Drinnen waren Kerzen an, und auf der großen Treppe stand der Schulchor und sang ein Weihnachtslied, das ich noch nie gehört hatte. Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise, es träumt der Wald einen tiefen Traum!

      Der Hausmeister hatte einen Karton, der bis obenhin voll war mit einzelnen Handschuhen, und einer davon war meiner.

      Durch die weite, weiße Welt.

      Mama und Renate kannten das Lied. Es ist für uns eine Zeit angekommen, sie bringt uns eine große Freud! Mama sang mit zweiter Stimme, anders und tiefer als Renate, aber so, daß es gut dazu paßte. Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen erfüllt die Herzen mit Seligkeit!

      Davon kriegte ich ’ne Gänsehaut.

      Mama nähte meine Handschuhe mit einer langen Schnur zusammen, die durch die Ärmel vom Anorak gesteckt wurde. So konnten die Handschuhe nicht mehr verlorengehen, aber ich mußte aufpassen, daß keiner was von der Schnur merkte. Der einzige, der sonst noch Handschuhe mit Schnur hatte, war Dieter Aulich, und mit dem wollte keiner spielen.

      Auf dem grünen Kalender an der Eßzimmerwand konnte man sehen, wieviele Tage es noch bis Weihnachten waren. Das Stövchen war innen mit was Rotem beklebt, das leuchtete, wenn das Teelicht brannte. Wenn man das Deckenlicht ausmachte, leuchtete das Rote im Stövchen noch heller.

      Schwarzer Tee mit Kluntje und Sahne. Weil wir reicher geworden waren, gab es dazu dieses Jahr Spekulatiuskekse mit Mandelsplittern.

      Frau Kahlfuß las uns eine Geschichte von einem Mädchen vor, das weggelaufen war, weil die Eltern so arm waren, daß sie keine Weihnachtsgeschenke kaufen konnten. Da brachte auch der Weihnachtsmann keine. Die Eltern suchten alles ab, das Haus, die Stadt, den Wald, aber das Mädchen war weg, und an Heiligabend saßen die Eltern im Wohnzimmer am Tisch und weinten und hielten sich unterm Tisch an den Händen, und ich mußte mir schnell was anderes vorstellen, sonst hätte ich selbst angefangen zu weinen.

      Dann kam das Mädchen aber doch noch zurück, und alle waren wieder fröhlich, auch ohne Geschenke.

      Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär. Mär sei ein anderes Wort für Botschaft, sagte Frau Kahlfuß, so wie Heiland ein anderes Wort für Jesus sei.

      Wir sangen auch ein trauriges Weihnachtslied, in dem jemand darum bettelte, ins Haus gelassen zu werden, um nicht zu erfrieren.

      Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?

      Für Mama und Papa schrieb ich als Weihnachtsgeschenk ein Lied ab: Laßt uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freun! Lustig, lustig, trallerallera, bald ist Nikolausabend da!

      Als ich fast fertig war, riß das Blatt ein, und Renate flickte den Riß mit Tesafilm.

      Im Kinderzimmer übten wir für Mama und Papa ein Krippenspiel ein. Renate war Maria und Volker Josef. Wiebke und ich sollten Hirten sein. Als Christkind lag die Puppe Annemarie auf Kissen in der Krippe, die Renate aus zwei Kinderstühlchen gebaut hatte. Ochs und Esel hatte sie auf Papier gemalt und mit Stecknadeln an der Gardine festgemacht.

      Wir sollten vor der Krippe knien und beten. Ich hatte als Hirte einen Cowboyhut auf. Wiebke trug auch einen, der aber umgekrempelt war. Für sich selbst hatte Renate einen Umhang ausgesucht. Volker kriegte eine Sofadecke als Mantel und eine von Renate gebastelte Perücke aus weißer Watte. Wiebke wollte, daß neben Annemarie ein Mainzelmännchen in der Krippe liegt, obwohl im Stall in Betlehem bestimmt keins dringelegen hatte.

      Als wir zum letzten Mal übten, hatte Renate auf dem Schrank auch Kerzen aufgestellt und angezündet. Wir sollten erst das Jesuskind begrüßen, dann Ochs und Esel an der Gardine füttern und dann zusammen beten. Als wir uns zur Gardine umdrehten, kam Volker mit der Perücke ans Kerzenfeuer, und die Perücke fing an zu brennen.

      Das Feuer kriegten wir nicht aus. Renate lief aus dem Zimmer und schrie: »Das ganze Haus brennt ab!«

      »Ach du Scheiße«, rief Papa, der in der Badewanne lag, und man hörte das Wasser klatschen und schwappen. Von unten kam Mama die Treppe raufgelaufen.

      Mama und Papa machten das Feuer mit Tüchern und Wasser aus. Unter der Perücke waren Volkers Haare angesengt und stanken. Renate ärgerte sich, weil die Perücke kaputt war, aber Mama sagte, das sei doch wurscht. Sie holte neue Watte aus dem Elternschlafzimmer und packte Volker was davon auf den Kopf, und Renate heulte, weil die neue Perücke viel schlechter war als die alte.

      Ich wollte nur wissen, ob Mama und Papa was gesehen hätten von der Krippe und von Ochs und Esel. Dann wäre das Krippenspiel ja keine Überraschung mehr gewesen. Mama sagte, nein, sie hätten nichts gesehen.

      Renate wollte nicht mehr, weil sie Volkers neue Perücke so blöd fand, und da wurde Mama böse. »Los jetzt!« rief sie, und dann führten wir das Krippenspiel eben auf.

      Vor der Bescherung gab es Würstchen mit Senf und Kartoffelsalat. »Nachher schlagt ihr euch den Bauch ja doch mit Süßigkeiten voll«, sagte Mama.

      Ich kriegte ein Wildwestfort mit Cowboys, eine rote Cowboyweste, eine neue Pistole und von Tante Therese aus England ein Auto. Volker hatte aus England auch ein Auto gekriegt, Mama Seife und Wiebke ein Kleid, weil Tante Therese Wiebkes Patentante war.

      Meistens bekam man als Junge bessere Geschenke als als Mädchen. Volker und ich kriegten neue Schlitten und Volker sogar einen Fotoapparat, aber Wiebke nur ein Spielzeugtelefon und Renate Strumpfhosen im Häkellook, kniehohe Lederstiefel und Briefpapier.

      Wir hatten aber auch Bücher gekriegt: Das Geheimnis der orangefarbenen Katze, Künstler Mäxchen, Herders buntes Bilderlexikon und Käuze, Schelme, Narren, mit Geschichten über die Schildbürger, die immer alles falsch machten.

      Nach Weihnachten fuhren Mama und Papa zum Klassentreffen nach Jever. Volker fuhr mit. Renate blieb mit Wiebke und mir auf der Horchheimer Höhe und sollte auf uns aufpassen.

      In dem großen Dampfkochtopf mit dem roten Deckel, aus dem oben ein zischender Stift rauskam, wenn das Essen gar war, kochte Renate uns Gulasch mit Nudeln.

      Beim Abendbrot machten wir eine Wurstscheibenschlacht am Eßtisch. Die Brote schmierten wir mit den Fingern, und ich feuerte meine Cowboypistole ab. Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch! Wir hatten die Jalousie runtergelassen, damit uns keiner sehen konnte, und dann gingen wir alle drei im Ehebett schlafen.

      Als