Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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fing an zu heulen, aber Mama ließ nicht locker. Ob das eine Mutprobe gewesen sei oder bitte was? Und ob ich vorhätte, die ganze Familie unglücklich zu machen? Erst Dieb und dann Brandstifter! Das sei kein Dummejungenstreich mehr, das sei Kriminalität. »Ja, jetzt kuckst du bedripst!«

      Von allen ihren Kindern hätte ich ihr immer den meisten Kummer gemacht.

      Und das viele Geld! Ihr Leben lang hätten sie und Papa jeden Pfennig dreimal umgedreht, um irgendwann auf einen grünen Zweig zu kommen. Keinen krummen Nagel weggeworfen, und jetzt sowas.

      Mit Ingo Trinklein sei Schluß. Der habe keinen guten Einfluß auf mich. Und ich übrigens auch nicht auf Ingo Trinklein, da seien dessen Eltern sich mit ihr und Papa einig. Sie hätten auch schon mit Frau Kahlfuß gesprochen. Die werde ein Auge auf uns haben.

      Ob das klar sei. Ob wir uns verstanden hätten?

      Mama ließ mir ein Buch von Tante Dagmar da. Eigentlich hätte ich das ja nicht verdient nach alledem, und ich mußte hoch und heilig versprechen, nie wieder was anzuzünden und künftig ein artiger Junge zu sein, der seinen Eltern auch mal Freude macht.

      Als Mama gegangen war, sagte Kai, ich sei eine Heulsuse, und Helmut sagte: »Wenn du das noch einmal zu dem Kleinen sagst, polier ich dir die Fresse.« Da sagte Kai nichts mehr, obwohl er älter war und Helmut mit dem Gipsbein gar nicht aus dem Bett gekonnt hätte.

      In dem Buch von Tante Dagmar war ein Bild von einem Mann, der miesepetrig aussah, weil er eine Glatze hatte, aber wenn man das Buch umdrehte, sah der Mann frohgelaunt aus, weil er oben Haare hatte, die andersrum nur die Barthaare waren: Sah Herr Stoppel sich im Spiegel, litt er große Seelenqual – unten war er wie ein Igel, oben aber gänzlich kahl. Eines Tages, liebe Leute, drehte er den Spiegel um, und da sah er voller Freude seine neue Haarfrisur!

      Meine Blinddarmnarbe war ein weißer Strich mit Punkten an beiden Seiten, und Mama schärfte mir ein, daß ich mich nicht gleich wie wild bewegen dürfe, sonst gehe die Narbe wieder auf.

      Die Narbe wollten alle sehen, auch Papa. Ich hatte Angst, wegen der Scheune übers Knie gelegt zu werden, aber von der Scheune wurde nicht mehr geredet.

      Was ich für die Schule aufholen mußte, brachte Mama mir bei. Das Dehnungs-h in Kohl, Kuh, mehr, Möhren, Ohr, sehr, weh und Zeh.

      Auf dem Schulhof war es jetzt Mode, andere mit auf den Bauch geschnalltem Ranzen anzurempeln, aber ich wollte nicht mitmachen, wegen meiner Blinddarmnarbe.

      Mit Ingo Trinklein traf ich mich in der Pause an der Stelle, wo immer die Schulbrote hingeschmissen wurden. Seine Eltern hätten ihm verboten, sich mit mir zu verabreden, sagte Ingo. Er werde sonst ins Internat kommen, das sei Scheiße. Aber die Scheune habe schon toll gebrannt.

      Weil die Wohnzimmerjalousie klemmte, schraubte Papa den Deckel ab. Im Jalousiekasten lag ein Spatz, der noch nicht flügge war. Ein erwachsener Spatz war mit dem Nest in der Jalousie eingerollt worden und totgegangen.

      Der kleine Spatz war nackt und piepte. Papa holte eine Styroporschachtel aus dem Keller. Der Spatz kam in die Schachtel und die Schachtel auf den Kleiderschrank im Nähzimmer.

      Wir fütterten den Spatzen mit Brotkrümeln. Papa bot ihm auch einen Regenwurm an, aber den mochte der Spatz nicht.

      Nach der Schule lief ich immer gleich ins Nähzimmer. Der Spatz aß nicht viel. Er wurde immer schwächer. Der hätte Fäden dranhaben müssen, wie der Spatz vom Wallrafplatz, um sich zu bewegen.

      Dann war er tot, und wir beerdigten ihn im Garten.

      Von der Styroporschachtel waren zwei Ecken abgebrochen. Es quietschte, wenn man die Stücke aneinander rieb, und Renate kriegte Gänsehaut davon und hielt sich die Ohren zu. Renate wußte, daß ich unter den Armen und am Rücken kitzelig war. Sie selbst war nirgendwo kitzelig, aber jetzt hatte ich raus, wie ich mich fürs Kitzeln an ihr rächen konnte.

      Im Wäldchen fand ich einen Ast, der wie der Buchstabe V aussah. V wie Volker. Ich legte den Ast auf einen Weg und versteckte mich im Gebüsch. Wenn Volker zufällig da langlief, würde er den Ast sehen und sich wundern, daß der wie ein V aussah, und dann würde ich aus dem Gebüsch kommen und Volker verraten, daß ich den Ast da hingelegt hätte.

      Ich wartete lange, aber Volker kam nicht.

      Abends machten Mama und Papa eine Flasche Sekt auf, weil sie die Baugenehmigung gekriegt hatten. »Na endlich«, sagte Mama, »nach dem ganzen Ämtergerenne ewig! Mein lieber Herr Gesangverein!«

      Von dem Sekt mußte Papa rülpsen.

      Jetzt würden wir bald in unser eigenes Haus ziehen, mit einem eigenen Zimmer für jeden und mit einem Hobbyraum, in dem wir Fußball spielen könnten. Oder Rugby, noch brutaler.

      In der Schule schrieb Frau Kahlfuß was an die Tafel, das wir abschreiben sollten. Hans und Suse laufen in den Garten. Das Nest unter dem Strauch ist leer. Das Nest am Zaun ist leer. Da ruft der Vater: »Sucht doch einmal im Zimmer.«

      Mama, Renate, Wiebke und ich saßen am Eßtisch und malten Ostereier an, als ein fremder Mann durch die offene Terrassentür reinkam. Auf den Armen trug er Volker, der ganz blutig war.

      »Ist das Ihrer?« fragte der Mann.

      »Ogottogott, ja!« rief Mama.

      Der Mann legte Volker aufs Wohnzimmersofa. Volker war mit seinem Fahrrad Kindern ausgewichen, mit Karacho gegen eine Mauer geknallt und über den Lenker geflogen.

      Mama wischte das Blut von Volkers Stirn und tupfte Jod auf die Wunde. Nach einer Stunde konnte Volker wieder sitzen und Renate helfen, Eier auszublasen.

      Als ich im Fernsehen einen Bumerangwerfer gesehen hatte, bat ich Mama, mir einen Bumerang mitzubringen, und sie brachte wirklich einen mit vom Einkaufen und dazu Baisers, die weiß und süß waren und knackten, wenn man reinbiß.

      Der Bumerang war orange und aus Plastik. Ich ging damit auf die Wiese vorm Wäldchen, aber ich warf ihn falsch, denn er plumpste immer runter.

      Ein fremder Junge kam vorbei und machte mir vor, wie man werfen mußte. Bei dem kam der Bumerang, nachdem er hoch übers Wäldchen geflogen war, bis vor die Füße zurück, und der Junge stoppte den Bumerang mit dem Schuh.

      Ich wollte das nachmachen, aber bei mir flog der Bumerang in ein Dornengestrüpp, und da kriegte ich ihn nicht mehr raus.

      Zu meinem Geburtstag wollte ich Tom Sawyer und Huckleberry Finn einladen, aber Mama sagte, die seien schon viel älter als im Fernsehen und außerdem Ausländer. Die könnten gar kein Deutsch.

      Wenn das so war, wollte ich meinen Geburtstag überhaupt nicht feiern. Ich knallte die Zimmertür hinter mir zu und heulte in den gelbroten, kratzigen Vorhangstoff.

      Komm, lieber Mai, und mache.

      Renate schenkte mir zum Geburtstag ein Taschenbuch, das ich schon fast ganz alleine lesen konnte. Der Riese Nimmersatt. Im Nimmerleinsland, weit hinter Berg und Meer, wohnte ein Riese. So groß war er, daß Büsche und Bäume ringsum rauschten, wenn er nur ein Augenlid bewegte.

      In dem Buch stand auch die Geschichte von dem Riesenapfel. Der mußte mit Stöcken gestützt werden und fiel irgendwann mit großem Gepolter vom Baum, kullerte den Hang runter, wurde von einem Fluß fortgeschwemmt und von einem armen Familienvater geangelt, der mit dem Apfel die ganze Familie sattmachen konnte.

      In einer anderen Geschichte kam ein Königssohn vor, der immer lachen mußte. Der wohnte im Königreich Balabaschi und kriegte Pfefferklöße in den Mund geschossen, damit er mit dem Lachen aufhörte. Der Schütze erhielt dafür den Orden vom goldenen Kloß.

      Wir mußten ein Diktat schreiben: Hans will Holz hacken. Aber er ist so dumm. Er hackt sich in die Hand. Oh – das tut weh! Hans schreit: Mutter! Mutter! Da kommt schon die Mutter: Lotte, lauf schnell zum Doktor! Der Herr Doktor kommt. Er verbindet die Hand.

      Hans muß sechs Tage im Bett bleiben. Und der Herr Doktor sagt: Beil und Messer, Scher und Licht sind fürs dumme