Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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und Winnetou. Ich wollte lieber Old Shatterhand sein, weil der auch mal kämpfte und schoß. Winnetou ritt immer nur von einem Stamm zum andern, um Frieden zu stiften.

      Einmal mußte Winnetou dann aber doch mit Großer Bär kämpfen, dem Häuptling der Komantschen. Obwohl er wußte, daß er den Kampf mit Uwe als Winnetou verliert, wollte Heinz Großer Bär sein. Als der Kampf im Gange war, kam Claudia dazu und wollte Paloma sein, die weiße Taube der schäumenden Wasser, aber die konnten wir nicht gebrauchen.

      Mit ihrem Dreirad karriolte Wiebke vom Gartentor aus los, aber nachhause kam sie dann ohne das Dreirad zurückgelaufen und konnte nicht sagen, wo sie es liegengelassen hatte.

      Mal fanden wir das Dreirad unten bei der Hausruine und mal umgekippt auf dem Spielplatz. Schließlich schrieb Mama mit einem dicken Filzstift auf die Unterseite: Dieses Dreirad gehört Wiebke Schlosser, Horchheimer Höhe, An der grünen Bank 10.

      Wenn wir das Dreirad nicht mehr wiederfänden, würde es vielleicht ein netter Mensch zu uns zurückbringen.

      In meinem Zeugnis stand, daß ich das erste Schuljahr mit gutem Erfolg besucht hätte. Lesen würde ich fließend mit Sinnentnahme. Ich hätte eine gute Wortvorstellung und gute Auffassungsgabe. Die Schrift sollte sorgfältiger werden. Martin hält sich noch immer in der Mitarbeit zu sehr zurück. Versetzt!

      Für das neue Haus bastelte Mama aus Eichenlaub und Krepp einen Richtkranz, der spät abends noch auf dem Dachstuhl angebracht wurde. Die Zimmerleute hatten im Rohbau für das Richtfest nur eine verdorrte Fichte hinterlegt.

      Volker kuckte im Fernsehen alles über den Mondflug von Apollo 11, und er malte Raketen, aber auch Rehböcke auf der Lichtung und Sauen in der Suhle.

      Der Start war so langsam gewesen, daß man dachte, die Rakete kommt nie bis zum Mond.

      Renate ging in den Garten, um die Astronauten zu sehen, wie die in den Mondkratern rumkrauchten.

      Bei Wiebkes Brille mußte jetzt das andere Glas zugeklebt werden, was Wiebke so wütend machte, daß sie die Brille ins Klo warf.

      Vor der Reise nach Jever fuhren wir nochmal zur Baustelle. Das Haus war riesig und grau. Es regnete, und der Richtkranz lag aufgeweicht im Schlamm.

      Im Zug durfte ich nicht wippen, nicht auf dem Gang rumlaufen, keine Klimmzüge am Gepäckfach machen, die Füße nicht auf den freien Platz legen und nicht mit dem Aschenbecherdeckel klappern. »Laß das!«

      Wiebke und Volker wollten auch mal auf den Gang raus, durften aber nicht. »Wie ein Sack Flöhe«, sagte Mama.

      Ich öste mich. In der Tür war ein kleines Gitter mit Luftlöchern, das man aufschieben und wieder zuschieben konnte, aber das durfte ich auch nicht.

      Auf den freien Platz in unserem Abteil setzte sich eine dicke Frau, die mich fragte, wie alt ich sei. Schon sieben? Dann sei ich ja wohl alt genug, um mir die Strümpfe hochzuziehen. Meine Strümpfe waren runtergerutscht, aber was ging das die dicke Frau an? Hochziehen mußte ich die Strümpfe trotzdem, um des lieben Friedens willen.

      Die dicke Frau pellte sich ein Ei, das hartgekocht war. Aus dem Reisekoffer holte sie einen kleinen Salzstreuer. Die Schale krümelte sie in den Aschenbecher.

      Für uns hatte Mama Schnitten mit Jagdwurst und Käse eingepackt und zwei Flaschen Sprudel. Den kriegten wir in unseren Kababechern zugeteilt. Wiebkes Becher war rot.

      Als ein anderer Zug an unserem vorbeifuhr, zitterte die Fensterscheibe. Ich hielt mir mit den Fingern die Ohren zu. Wenn man das in kurzen Abständen machte, Ohren zu auf zu auf zu auf zu, hörten sich alle Geräusche ganz verrückt an.

      Renate las ein Buch, obwohl sie am Fenster saß. Ich wollte auch mal am Fenster sitzen, und das durfte ich dann, in Gottes Namen.

      Am Fenster konnte man sich einbilden, man würde neben dem Zug herrennen, auf den Telefonkabeln lang, auf anderen Geleisen, auf der Straße und mit Salto über Häuser rüber, die im Weg standen.

      Als ich aufs Klo mußte, brachte Mama mich hin, aber das Klo war besetzt. Im nächsten Waggon war noch eins. Zwischen den Waggons war eine Stelle, wo es schepperte und krachte, und man sah durch einen Spalt, wie der Zug über die Schienen raste.

      Das Wasser aus dem Hahn durfte man nicht trinken. Wenn das giftig war, wollte ich mir damit auch nicht die Hände waschen.

      In Sande mußten wir auf den Triebwagen warten. An der Wand hing ein Kaugummiautomat. Ich bettelte, bis Mama mir einen Groschen dafür gab.

      In dem Automaten waren Kaugummis und Ringe, aber der Groschen verklemmte sich im Schlitz, und die Luke war leer. Ich faßte nur in irgendwas Schmieriges rein.

      »Ijasses«, sagte Mama. Wo ich denn nun schon wieder die Pfoten dringehabt hätte.

      In dem Zug nach Jever war es heiß, und es gab nicht genug Platz für alle. Eine große Fliege flog wieder und wieder gegen die Fensterscheibe.

      »Ellenserdamm, Ellenserdamm …« Das habe ihr Opa früher immer aus dem Schienenrattern rausgehört, wenn er von Jever nach Ellenserdamm gefahren sei, sagte Mama. Wir sollten mal hinhören. Ellenserdamm, Ellenserdamm …

      Mamas Opa, Opa Thoben, war in Jever Bahnhofsvorsteher gewesen.

      Oma Jever hatte Schaschlickspieße gemacht mit Kartoffeln und Paprika und als Nachtisch rote Grütze mit Frischmilch.

      Mama schimpfte über die Handwerker, was die schon alles falsch gemacht hätten beim Hausbau, da sei das Ende von weg. Und es sei auch alles viel teurer geworden als ursprünglich geplant. Bis auf weiteres könnten wir uns keine großen Sprünge mehr erlauben.

      Es wurde auch von früher erzählt. Einmal hätten sich Renate und Volker in Jever im Wohnzimmer eingeschlossen und dann den Schlüssel nicht mehr gefunden. Sie hätten geheult und durch die Tür gebrüllt: »Hier kommen wir nie, nie, nie wieder raus!« Die hätten sich da schon als Skelette liegen sehen. Papa habe das Türschloß aufbrechen müssen, und am nächsten Sonntag sei der vermißte Schlüssel dann in der Kirche aus dem Gesangbuch gefallen, Oma in den Schoß.

      Oder von ganz früher, als Mama sich auf freier Wildbahn vor Tieffliegern verstecken mußte. Opa Thoben habe immer Feindsender gehört und auf die Nazis geschimpft, aber als Adolf Hitler ihm mal die Hand gegeben hatte, sei er doch im allerhöchsten Maße gebumfidelt gewesen.

      In einem Fach unterm Fernsehtisch lag die Bildzeitung. Rocker-Terror am Wochenende. Lokal zertrümmert, Lehrlinge beraubt: Zwei Verletzte. In meinem Horoskop stand, daß ich ab 13.30 Uhr steigende Erfolgschancen hätte.

      Opa nahm uns mit ins Schloßmuseum. Da stand ein Hochrad. Der Sattel war so weit oben, daß man gar nicht wußte, wie man da draufkommen sollte. Mit solchen Scheesen waren die Leute in Opas Jugend auf der Straße rumgegurkt. Als die Bilder laufen lernten.

      Früher sei Jever von Fräulein Maria regiert worden, sagte Opa. Die habe sich der Sage nach in einem unterirdischen Gang unterm Schloß verirrt und sei darin verschollen. Noch heute würden einmal am Tag die Glocken geläutet, die Fräulein Maria helfen sollten, den Rückweg zu finden. Das sei das Marienläuten.

      Wenn Oma auf die andere Straßenseite zu Mammen ging, um Öl und Mehl und Waschpulver zu kaufen, kam ich mit, weil ich da immer einen Bonbon zugesteckt kriegte. Auf der Horchheimer Höhe gab es für Kinder fast nie was umsonst, nur in Koblenz in der Apotheke. Oder beim Schlachter.

      Auf dem Schützenfest kriegten wir Zuckerwatte. Wenn man die aufhatte, konnte man noch den Holzstengel auskauen.

      In der Losbude hing als Hauptgewinn ein Teddy, der doppelt so groß war wie Wiebke. Mama und Oma gaben uns vier Lose aus, aber das waren alles Nieten.

      Leider nicht gewonnen!

      Auf der Erde lagen noch viele verbrauchte Lose, und ich suchte nach einem, das keine Niete war. Es konnte ja jemand aus Schusseligkeit übersehen haben, daß er was gewonnen hatte.

      Beim Schießstand schoß Oma drei Rosen ab und verteilte sie an Mama,