Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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fährt, Klosettpapier mit Blümchen hat, einen Nachttopf mit Beleuchtung und einen Bandwurm, der Pfötchen gibt. Das sei ja reichlich ordinär, sagte Mama, da müsse sie mal ein paar Takte mit Dagmar reden.

      Domino war doof. Ich wollte lieber Wildwest spielen, aber Volker sagte, ihm stehe Wildwest bis hier.

      An Silvester hatte Papa einen Schwips. Mama schoß ein Foto von Volker und mir, als wir im Wohnzimmer zur Musik aus dem Fernsehen Beat tanzten.

      Roberto Blanco, Adamo und Dunja Rajter. »Die singen sich aber auch einen Schafsscheiß zusammen«, sagte Papa und gähnte so laut und so lange, daß Mama schon dachte, er würde Maulsperre kriegen. Mama hatte das mal gehabt, als Kind. Den Mund nicht wieder zugekriegt und zum Arzt gemußt, der ihr den Unterkiefer mit einem brutalen Griff wieder eingerenkt hatte.

      Um Mitternacht durften wir mit brennenden Wunderkerzen durch den Garten rennen und das Schaltjahr begrüßen.

      Hansjoachim hatte in der Silvesternacht von seinem Zimmer aus mit einem Kerzenstumpf nach einer jaulenden Katze geworfen. Sowas hätten Volker oder ich mal versuchen sollen. Den Hosenboden strammgezogen hätten wir gekriegt.

      In der Klasse hatten wir nach den Ferien eine Neue, die Piroschka hieß.

      »Und wie weiter?« fragte Frau Katzer.

      »Szentmiklossy.«

      »O Gott, das mußt du mir buchstabieren!«

      Piroschka stammte aus Ungarn und konnte Ungarisch, aber auch Deutsch. Sie war noch viel schöner als Roswitha Schrimpf. Blitzblaue Augen, Bubikopf statt Zöpfe und ungarisch.

      Zur Schule war Piroschka von ihrem Vater gebracht worden. Sie wohnte in der Rudolf-Harbig-Straße hinterm Fußballplatz und kannte sich noch nicht aus. »Wer begleitet Piroschka heute nachhause?« fragte Frau Katzer. Fünf Mädchen meldeten sich, und Frau Katzer suchte Heike Zöhler und Gabi Schleip aus.

      Ich hätte mich auch gerne gemeldet, aber genausogut hätte ich mich begraben lassen können: Hier liegt in ewiger Ruhe der Schwachkopf, der als einziger Junge aufgezeigt hatte, als es darum ging, wer die Neue nachhause begleitet.

      Die anderen Jungs hätten sich gekugelt vor Lachen, auch die Mädchen, und ich wäre blamiert gewesen bis auf die Knochen.

      Vorm Einschlafen dachte ich jetzt nicht mehr an Roswitha, sondern an Piroschka, wie ich sie vor Qualle und dem Ventilmops beschütze, und ich drehte mich immer auf die linke Seite, mit dem Gesicht zur Rudolf-Harbig-Straße.

      Willst du mit mir gehn, Licht und Schatten verstehn, dich mit Windrosen drehn? So war das also, wenn man bis über beide Ohren verliebt war.

      Nach Angelika Quasdorf und Melanie Pape konnte Piroschka meine dritte Freundin werden. Oder meine sechste, wenn man Andrea und Daniela von der Horchheimer Höhe mitzählte und vom Mallendarer Berg noch Roswitha Schrimpf, auch wenn die das nicht wußte.

      Michael Gerlach wohnte in der Sebastian-Kneipp-Straße, wo das Schwimmbad gebaut wurde und der beste Weg ins Wambachtal runterging. Da latschten wir dann abends auch wieder rauf, und ich nahm jedesmal noch den Umweg über die Rudolf-Harbig-Straße in Kauf, in der Hoffnung, Piroschka in die Arme zu laufen, aber von der war nie eine Spur zu sehen.

      Rumba, Cha-Cha-Cha und die Linksdrehung beim Walzer lernte Renate jetzt in der Tanzstunde und machte uns das im Wohnzimmer vor, inklusive Tango und Foxtrott, bis Papa aus dem Keller hochbrüllte: »Könnt ihr mal aufhören mit dem Zinnober da oben?«

      Als Renate zum Zahnarzt mußte, sollten Volker und ich auch mit hin, alle in einem Aufwasch. »Ich mach mein Testament«, sagte Volker, und das machte ich auch.

      Ich, Martin Schlosser, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, vererbe für den Fall meines Ablebens auf dem Zahnarztstuhl meiner Schwester Renate alle meine Bücher, meinem Bruder Volker meine Heinoplatte und meinen Anteil an der Carrerabahn, meiner Schwester Wiebke meinen G.I.-Joe und meinen Eltern den Rest meiner irdischen Besitztümer. Meine sterblichen Überreste sollen im Wald auf der Horchheimer Höhe zur letzten Ruhe gebettet werden. Martin Schlosser, Vallendar bei Koblenz, 13. Januar 1972.

      Durch die Wartezimmerwand konnte man die Kinder schreien hören, bei denen gebohrt werden mußte.

      Ich holte mir ein Buch. Karius und Baktus. Die hatten sich bei einem Jungen in dessen Gebiß wohnlich eingerichtet und benagten die Zahnhälse.

      Zum Zahnklempner müssen war schlimmer als zum Glatzenschneider müssen, weil man nie wußte, was auf einen zukam. Man konnte kilometerlange Betäubungsspritzen kriegen, wenn man Pech hatte.

      Bei mir war alles in Ordnung, aber bei Renate, die zwei neue Plomben bekommen hatte, war von den Spritzen die halbe Nase taub.

      Volker jubilierte, weil er die Zahnspange nicht mehr tragen mußte. Das sei sein schönstes Geburtstagsgeschenk.

      Das zweitschönste war ein neues Auto für die Carrerabahn, ein rotes. Das grüne hatte ausgedient. Volkers neue Karre war erheblich fixer als meine. Ohne zwei Sekunden Vorsprung hatte ich mit meiner alten Mühle keine Chance.

      Von den dreißig Mark, die er von Onkel Walter gekriegt hatte, kaufte Volker sich Platten. The Well-Tempered Synthesizer und eine von Ekseption.

      Morgens war Stromausfall, und wir saßen im Dunkeln.

      »Häch?«

      Mama kramte im Küchenschrank nach Streichhölzern und Kerzen. Mit einer von den Funzeln tappte Papa zum Sicherungskasten, aber dann ging das Licht ganz von alleine wieder an. »Da soll sich einer auskennen«, sagte Mama.

      Bei den anderen war auch überall Stromausfall gewesen, und wir sollten einen Aufsatz darüber schreiben. Wir waren gerade aufgestanden, als das Licht ausging, schrieb ich. Mein Bruder stürzte beim Zähneputzen in die Badewanne und kugelte sich den Arm aus. Von oben fiel mein Vater mit ohrenbetäubendem Lärm die Treppe runter und überschlug sich, bis er unten mich und meine Schwestern umstieß. Wir lagen in einem einzigen Knäuel auf dem Fußboden im Flur und fluchten alle so laut, daß die Wände wackelten, und dann stolperte noch meine Mutter über uns drüber.

      Wegen dem Aufsatz hatte Mama eine Stinkwut auf mich. Was ich mir dabei gedacht hätte, solchen hirnverbrannten Quatsch zu verzapfen. Es sei höchste Zeit, meiner blühenden Phantasie mal die Zügel anzulegen. »Was soll denn deine Lehrerin denken über unsere Familienverhältnisse hier? Die geht noch hin und hetzt uns das Jugendamt auf den Hals!«

      Im Turnverein gefiel es mir nicht mehr. Liegestütze und Übungen mit dem Scheißmedizinball, bis man auf dem letzten Loch pfiff, immer der Schweißmaukengestank im Umkleideraum und wie gerädert nachhause kommen.

      Mama meldete mich wieder ab.

      Aus irgendeinem Grund war Piroschka in eine andere Klasse versetzt worden, und ich wollte die Brocken schon hinschmeißen, aber dann kam ich eines Tages aus dem Wambachtal und sah Piroschka in der Rudolf-Harbig-Straße auf dem Fahrrad im Kreis fahren.

      Ich kriegte einen Steifen, und es gab keinen Weg, in den ich abbiegen konnte. Was tun, sprach Zeus? Auf den Hacken kehrtmachen?

      Je näher ich Piroschka kam, desto öfter sah sie zu mir rüber, und als bei ihr war, blieb sie stehen. »Ich hab gehört, du schreibst Gedichte«, sagte sie. »Kannst du mir mal welche davon zeigen?«

      In meinem Zimmer zermarterte ich mir das Gehirn, was ich Piroschka genau geantwortet hatte. Daß die Gedichte erst den letzten Schliff kriegen müßten, aber danach würde ich sie ihr zu lesen geben, gut, aber was noch?

      Hoffentlich hatte sie nichts von meinem Steifen gemerkt.

      Für Piroschka brachte ich meine Gedichtekladde von der ersten bis zur letzten Seite auf Vordermann. Wörter ausradieren und gelungenere einsetzen. Ich schrieb auch noch ein neues Gedicht, nur für Piroschka, über den reißenden Wambach, der natürlich nicht überall reißend war, aber was war das Gegenteil von reißend?

      Ich ging Mama fragen, die in der Küche stand und Brote schmierte. Mettwurst