Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Hinter Simmern ging Richtung Vallendar steil durch den Wald eine Straße runter, wo man ein Höllentempo kriegte und scharf aufpassen mußte, besonders in den Haarnadelkurven. Volker kachelte vorneweg, mit dem Kinn in Lenkerhöhe, wie üblich, um den Luftwiderstand zu verringern.

      In Vallendar wollten wir Kaugummis ziehen, aber um den Automaten flogen Wespen rum. Es waren auch welche innendrin, eingekeilt zwischen den Kaugummis, die in der prallen Sonne schon halb geschmolzen waren. Tierquälerei sei das, sagte Volker.

      Wir schoben die Räder auf Umwegen durch die Gartenstadt hoch, und ich hielt Ausschau nach Roswitha Schrimpf, aber ohne Erfolg.

      Am Straßenrand saß ein kleiner Hund, der sich streicheln ließ. Dann lief er uns nach, die ganze Strecke bis zur Kaiser-Friedrich-Höhe. »Ich wette, der ist herrenlos«, sagte Volker, aber dann kam ein Opa auf einem Moped die Sprungschanze hoch, pfiff den Hund zu sich hin und spuckte Gift und Galle: »Saupänns seid ihr!«

      Als ob wir den Hund entführt hätten und der uns nicht von sich aus nachgelaufen wäre. Sollte der Idiot seinen Wauwau doch anleinen.

      In der Gutenbergstraße fuhr ich mit Volldampf über die Bürgersteigkante. Es gab einen Knall, und der Vorderreifen war platt. »Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt«, sagte Volker.

      Es gab nicht viel, wobei man belemmerter aussah, als wenn man ein Rad mit Plattfuß zu schieben hatte.

      Den geplatzten Schlauch mußte ich unter Papas Aufsicht flicken. Rad auf den Kopf stellen, Wasserschüssel füllen, Flickzeug suchen, Vorderrad ausbauen, Mantel von der Felge würgen, Schlauch aufpumpen, ins Wasser halten und auf Bläschen achten, Loch finden, Schlauch abtrocknen, Flickstelle mit Stinkezeug einschmieren, Flickengummi abziehen, aufsetzen und andrücken, abwarten und den Schlauch wieder aufpumpen. Wenn unter dem Flicken Luft rauspfiff, konnte man alles wieder abreißen und von vorne anfangen.

      Papa warf mir Schimpfwörter an den Kopf: Trampeltier, Nashorn, Tränentier, Trantüte, Weihnachtsmann, Pfeife, Kamel.

      Als auch beim zweiten Mal noch Luft aus der Flickstelle kam, riß Papa mir den Schlauch aus der Hand. Ich sei ein Armleuchter.

      Die Steilkurven in der Carrerabahn bewältigte Volkers lahmes Auto nur noch hängend. Es kam nicht mehr auf Touren. Den Looping sauste es halb hoch und fiel dann runter. Klack! Das war im Eimer.

      Mein eigenes fuhr noch wie geschmiert, aber ohne guten Gegner machte das Gewinnen keinen Spaß, und wir bauten die Carrerabahn wieder ab.

      In der Schule wollte ich jetzt ganz vorne sitzen. Den Platz, den man das ganze Jahr lang hatte, mußte man sich gleich in der ersten Stunde sichern, und ich kriegte es hin, mich auf einen Stuhl unmittelbar vorm Pult zu schwingen, bevor mich jemand überholen konnte.

      Benno Anderbrügge und Angela Timpe waren klebengeblieben.

      Neue Hefte mit makellosen Löschblättern. Mein Vorsatz war, das vierte Schuljahr ohne Tintenflecken auf den Löschblättern zu überstehen.

      Neben mir saß Manfred Cordes. Melanie Pape kam zu spät und mußte ganz hinten sitzen. Roswitha Schrimpf teilte sich am Fenster einen Tisch mit Heike Zöhler.

      Frau Katzer machte den Vorschlag, die Tische mal ganz anders aufzustellen, in Hufeisenform, aber da waren alle gegen. Das wäre ja wohl auch das Letzte gewesen, erst einen Platz vorm Pult ergattern und den dann wieder aufgeben müssen.

      Zum Religionsunterricht müßten die Evangelen mittwochs nach der dritten Stunde zur Kirche im Weitersburger Weg laufen, sagte Frau Katzer, und danach, das sei der Witz des Jahrhunderts, wieder raufkommen, weil in der fünften alle zusammen Zeichnen hätten.

      Als abgestimmt wurde, ob ein neuer Klassensprecher gewählt werden soll, war die Mehrheit dafür, daß ich das bleibe. Ich war gebauchpinselt, aber dann ärgerte ich mich schwarz, weil ich Esel nicht gekuckt hatte, ob Roswitha Schrimpf für mich oder gegen mich gewesen war. Das konnte ich auch keinen fragen.

      Als Klassensprecher hatte man allerhand um die Hacken.

      Im neuen Lesebuch stand was über die Ewigkeit. Alle hundert Jahre wetzt ein Vogel seinen Schnabel an einem Berg, und wenn die Vögel den ganzen Berg weggewetzt haben, ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei.

      Und die Geschichte von einem Jungen, der so dick war, daß alle ihn Kloß nannten, und dann wurde er auch noch verhaftet, weil er Spielzeugautos gestohlen hatte. Ein Polizist ging mit dem Kloß nach Hause und erzählte alles seiner Mutter …

      In dessen Haut hätte ich nicht stecken wollen.

      Die Stundenpläne befestigte Mama neben dem Kühlschrank mit Stecknadeln an der Küchenwand.

      Neu war, daß wir Sexualkunde hatten. Frau Katzer hängte eine Zeichnung von zwei nackten Kindern auf. Was haben Peter und Evi gemeinsam? Stirn, Augen, Nase, Mund, Schultern, Arme, Bauchnabel, Beine, Füße. Was hat Peter, was Evi nicht hat? Das Glied. Was hat Evi, was Peter nicht hat? Die Scheide.

      Auf einem Bild war zu sehen, wie sich der Samenfaden ins Ei bohrt. Gut merken sollten wir uns, daß eine Schwangere nicht für zwei zu essen brauche.

      Die Pubertät, der Eisprung und die Gebärmutter. Klaus Koch kippelte mit dem Stuhl und kriegte einen Eintrag ins Klassenbuch.

      Die Kartoffel. Die Kartoffel ist eine Staudenpflanze mit rauhhaarigen Fliederblättern, weißen oder bunten Blüten, giftigen Beerenfrüchten und blattlosen Erdtrieben, die stärkereiche Knollen bilden. Frau Katzer schälte eine Kartoffel und sagte, daß die Kartoffeln aus Amerika nach Europa gekommen und in Deutschland erst vor zweihundert Jahren heimisch geworden seien. Manfred Cordes und ich fraßen die Schalen vom Pult weg.

      Wir hatten jeder eine Kartoffel in die Schule mitbringen sollen. Welche Form hatten die Kartoffeln? Rund, lang, dick, dünn. »Meine Kartoffel ist oval«, sagte Oliver Wolter hochtrabend und wurde dafür von Frau Katzer über den grünen Klee gelobt, die alte Arschgeige.

      In Zeichnen waren Bilder in Kartoffeldruck dran. Da mußte man keine Pinsel ausspülen, aber das Gedrängel am Waschbecken dauerte noch länger als sonst, weil sich alle Jungs mit Farbe eingesaut hatten, außer Oliver Wolter natürlich.

      Nach der Kartoffel nahmen wir die Schnecke durch. Frau Katzer hatte einen Glaskasten mit Erde aufgebaut und zwei Schnecken reingesetzt.

      Die Schnecke ist ein Zwitter, schrieb Frau Katzer an die Tafel und legte ein Kopfsalatblatt in den Glaskasten, als Futter für die Schnecken, die mit der Unterseite aneinander hochgeglitscht waren, um sich zu begatten. Das sollten wir abzeichnen.

      In der Pause sagte Michael Gerlach, daß er sich frage, ob wir bald auch Bilder in Schneckendruck machen müßten. Durchgeschnippelte Schnecken in die Farbe tunken und das Blatt damit vollstempeln.

      Hinter den Fichten am Schulhofrand kriegte ein I-Dötz den Arm auf den Rücken gedreht, von Qualle und dem Ventilmops. Die konnten es nicht lassen, ihr Mütchen an Schwächeren zu kühlen.

      Religion hatten wir bei Frau Frischke. Absalom, der beim Reiten mit dem Haar an Eichenzweigen hängengeblieben war, und König Salomo, der ein Kind in zwei Hälften hacken lassen wollte.

      Frau Frischke zwinkerte immer, weil sie ein Gerstenkorn im Auge hatte, und nach ein paar Tagen fing Oliver Wolter auch so an zu zwinkern, aber nur in Reli.

      Einmal mußte Frau Frischke Bußgeld zahlen, weil sie in Vallendar falschrum durch eine Einbahnstraße gefahren war. Das erzählte mir Michael Gerlach. Frau am Steuer!

      Sonntags garten Rindsrouladen im Dampfkochtopf, und Mama striepelte im Wohnzimmer beim Internationalen Frühschoppen Bohnen ab. Das einzige, was da passierte, war, daß von Zeit zu Zeit eine Frau reinkam und den sechs Journalisten aus fünf Ländern Wein einschenkte. »Wenn ich das jemals freiwillig kucken sollte, könnt ihr mich aufhängen«, sagte Volker.

      Die Leute von der Shiloh Ranch waren das Beste am Sonntag. Trampas, mit Schweißrand am Cowboyhut, und Virginian in seiner schwarzen Weste. Die mußten mit durchgehenden Rinderherden und allen möglichen Halunken fertigwerden: