Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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sie unzerkaut runter. Und Agarob rief immer: »Sa! Sa! Sa!« Oder: »Tji! Tji!« Zehnmal auf jeder Seite.

      Robinson Crusoe war schon was anderes. Oder Fliegender Stern. Das war ein Indianerjunge. Fliegender Stern saß vor dem Zelt seines Vaters und dachte: Es ist schlimm, wenn man noch ein kleiner Junge ist. Warum dauert es nur so lange, bis man groß wird?

      Nach dem Baden mußten Fliegender Stern und sein bester Freund sich mit abgerissenen Zweigen hauen, um trocken zu werden. Hatten die Indianer denn keine Handtücher?

      »Es ist vollbracht«, sagte Volker. Der Looping stand, und wir fuhren Wettrennen, bis Mama runterkam und uns Beine machte. »Ab ins Bett! Aber im Schweinsgalopp, wenn ich bitten darf!«

      Ich verstand gar nicht mehr, was an der Carrerabahn ohne Looping gut gewesen sein sollte.

      Bei Spiel ohne Grenzen mußten die Mannschaften in einem Schwimmbad große Bälle über Stege rollen, und die Leute platschten reihenweise ins Wasser.

      »Das ist nicht Spiel ohne Grenzen, das ist bloß grenzenlos stupide«, sagte Renate.

      Papa schickte mich mit abgezähltem Geld zur Kneipe auf der Kaiser-Friedrich-Höhe, drei Flaschen Bier kaufen. Ich fuhr mit dem Rad hin, machte aber einen Umweg, weil ich nicht an dem Haus vorbeiwollte, in dem der Ventilmops wohnte.

      Der Dobermann drehte fast durch vor Wut in seinem Zwinger, die angezwitscherten Männer in der Kneipe machten sich über mich lustig, und auf der Rückfahrt rissen die Henkel von der Plastiktüte, die ich an den Lenker gehängt hatte.

      Eine von den Flaschen war zerbrochen. In der Tüte war alles klatschnaß und voller Scherben, und es stank nach Bier.

      Ich dachte mir eine Lüge aus: »Der Ventilmops hat mich überfallen. Der hat mich angehalten und mir eine von den Flaschen weggenommen.« Der hinterhältige Hund.

      Das sei Straßenraub, sagte Papa, und er wollte zur Polizei gehen und Anzeige gegen den Ventilmops erstatten. Solchem Gesocks müsse man das Handwerk legen!

      Ich zischte ab und schloß mich im Gerätekeller hinterm Hobbyraum ein.

      »Was hat der Ventilmops denn angehabt?« fragte Volker mich durch die Tür und rüttelte an der Klinke.

      »Weiß ich nicht, lauter Scheiße halt!«

      Weil ich nicht zur Polizei mitkommen wollte, mußte ich schließlich zugeben, daß ich gelogen hatte, und Papa gab mir zwei Ohrfeigen, die mehr wehtaten als die von Mama.

      In meinem Zeugnisheft für die Familie notierte ich für Papa eine Sechs. Ich hatte noch nie was anderes als Fünfen oder Sechsen vergeben, aber immer eine Begründung hinzugefügt: Petze, Drecksau, Geizkragen, Arsch. Erst kurz vor dem Muttertag riß ich die Seiten raus und schmiß sie zerknüllt in die Mülltonne.

      In der Schule mußten wir zum Muttertag leere Graniniflaschen mit Knete bekleben und dann anmalen, was eine Mordsschweinerei war.

      Ich schrieb für Mama ein Gedicht ab. Und ob der Maien stürmen will mit Regenguß und Hagelschlag wie ein verspäteter April: Er hat doch einen schönen Tag. Hat einen Tag, der schlimme Mai, viel lieber als das ganze Jahr, und wo es schien mir einerlei, ob trüb der Himmel oder klar. Und ist er trübe auch, ich fand mein Sträußlein doch in Wald und Ried und kann doch geben dir die Hand und singen dir ein schlichtes Lied.

      Alles in Schönschrift, mit Buntstiftgirlande. Aber was war Ried?

      Das Gedicht, das Volker abgeschrieben hatte, war noch eine Idee schleimiger: Ich hab Dich gern, will Dich nie kränken und will mein ganzes Herz Dir schenken. Heute sollst Du immer ruh’n, ich will Deine Arbeit tun. Ich mahle den Kaffee und decke den Tisch, dann bleibst Du munter wie ein Fisch. Ich gieße die Blumen und pflanze sie ein, dann hast Du ein schönes Gärtelein. Ist zu End das nächste Jahr, sollst Du sagen, daß immer Muttertag war.

      Bloß gut, daß der Fischzüchter noch nicht bei uns angerufen hatte.

      Mama ging mit Wiebke nach Vallendar zu Frau Doktor Golz, einer Augenärztin, vor der Wiebke große Angst hatte, und ich mußte mit, weil ich Mama hinterher Milch schleppen helfen sollte.

      Ein großes E. Das seien zwei Garagen, sagte Frau Doktor Golz, und Wiebke sollte ihr verraten, in welche Garage das Auto fahre, in die obere oder in die untere, aber Wiebke sagte immer nichts, nur Mama ins Ohr, und Mama mußte es dann laut wiederholen.

      Frau Katzer warnte uns vor Tieren mit Tollwut. Sie brachte uns bei, daß Hyazinthen unter Naturschutz stünden, und zeichnete mit bunter Kreide Blumen an die Tafel. Rotklee, Hahnenfuß und Glockenblume, Frauenschuh und Türkenbund.

      Als Wiebke im Krankenhaus in Gießen war, fuhr ich mit Mama dahin mit, Wiebke besuchen.

      Sie lag in einem Bett im Flur. Abgemacht war, daß erst nur das eine Auge operiert werden sollte, aber die Ärzte hatten beide Augen operiert und dann verbunden.

      »Mama, ich will dich sehen!« jammerte Wiebke.

      Das Bilderbuch, das Mama ihr schenken wollte, durfte ich mit in den Garten nehmen, den das Krankenhaus hatte.

      Der Friederich, der Friederich, das war ein arger Wüterich! Er peitschte seine Gretchen gar, aber die war viel größer als der bitterböse Friederich, da hätte sie ihm doch eine verplätten können?

      Und Minz und Maunz, die Katzen, erheben ihre Tatzen.

      Der Niklas, der die drei Jungen ins Tintenfaß taucht, und die Geschichte vom Daumenlutscher: Weh! jetzt geht es klipp und klapp, mit der Scher die Daumen ab.

      Komisch, daß die Eltern vom Suppenkaspar dem noch eine Schüssel Suppe aufs Grab stellten.

      Der Zappelphilipp. Und Hans Guck-in-die-Luft, den die Fische auslachen, als ihm die Schulmappe wegschwimmt. Und der fliegende Robert mit seinem Schirm: Wo der Wind sie hingetragen, ja, das weiß kein Mensch zu sagen.

      Wir hatten eine neue Schülerin in der Klasse, und weil Melanie Pape krank war, kriegte die Neue den freien Platz neben mir. Sie hieß Roswitha Schrimpf und hatte braune Zöpfe und dunkelbraune Augen. Mit ihren Eltern war sie von Stuttgart nach Vallendar gezogen, in die Gartenstadt. Alles an Roswitha Schrimpf war fein und schmal, und an ihrer Schläfe konnte man blaugrüne Äderchen sehen.

      Zuhause holte ich mir ein blütenweißes Blatt Papier aus Papas Schreibtisch.

      Liebe Roswitha! Ich liebe Dich über alles und möchte Dein Freund werden. Dein Martin.

      In Sonntagsschrift. Ich kriegte Herzklopfen, wenn ich das las. Das Blatt versteckte ich im Schiebeschrank zwischen alten Schulheften. Melanie Pape spielte jetzt für mich nur noch die zweite Geige. Auf die Dauer, lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz.

      »Setz dich mal richtig hin«, sagte Roswitha Schrimpf, als ich einmal mit einem Fuß unterm Hintern auf meinem Stuhl saß, und als Melanie Pape wiederkam, setzte Frau Katzer Roswitha Schrimpf neben Heike Zöhler. Die beiden wurden Busenfreundinnen, und ich hatte keine Chance mehr.

      Jetzt kapierte ich erst, was Liebeskummer war und weshalb Charlie Brown immer so unglücklich war wegen dem kleinen rothaarigen Mädchen.

      Frau Katzer wollte ein Theaterstück über die Schildbürger mit uns aufführen. Wer Lust hatte, mitzumachen, sollte sich melden. Roswitha zeigte auf. Ich auch.

      Schicksalsmelodie.

      Für das Treffen am Nachmittag in der Klasse sollten wir uns neue Schildbürgerstreiche ausdenken. Ich überlegte mir, daß einer von den Schildbürgern in das Rathaus, das sie aus Versehen ohne Fenster gebaut hatten, eine Katze mitbringen will. Katzenaugen leuchten in der Dunkelheit, und dann ist es hell im Rathaus, sagt der Schildbürger, aber die anderen sagen, wenn es hell ist, leuchten die Katzenaugen nicht mehr, und es ist wieder dunkel, deshalb holen sie dann doch keine Katze ins Rathaus.

      Von Frau Katzer kriegte ich ein Lob für diesen Einfall, aber Roswitha Schrimpf war nicht gekommen, und da ging ich auch nicht mehr hin.

      Als Stephan Mittendorf Geburtstag hatte,