Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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weil es die im richtigen Leben ebensowenig gebe wie Lolek und Bolek oder Pan Tau mit der Zaubermelone. Fürchten würde er sich nur vor Mördern aus Fleisch und Blut, die bei uns eingebrochen wären und einen abmurksen wollten. Er könne sich das gut vorstellen, wie er nachts im Keller ein Messer bis zum Schaft ins Kreuz gerammt kriegt und gottserbärmlich verrecken muß, wobei er noch um Hilfe rufen will, aber keinen Ton mehr rausbekommt, so wie im Traum, wenn man weglaufen will und nicht kann, weil die Beine zu schwer sind.

      Es war Schnee gefallen, und man konnte den eigenen Atem sehen. Der Schulbus hatte Verspätung. »Oho, ohoho, wann kommst du?« grölten welche.

      Manche Schüler hatten Ranzen mit Schnallen auf, die rot oder orange leuchteten. Meinen trug ich in der Hand, und auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Schule trat ihn mir der Ventilmops von hinten runter. Ranzenruntertreten, das war eine von dessen Spezialitäten.

      Volker kriegte Nachhilfe in Englisch, für elf Mark die Stunde. Da sollte er auf Trab gebracht werden.

      Im Hobbyraum stellte er Laubsägearbeiten her und schraubte Haken für Topflappen in einen Holzlöffel, den er als Geschenk für Onkel Walter in der Mache hatte.

      Der Tannenbaum war so lang, daß er nur mit umgeknautschter Spitze ins Wohnzimmer paßte.

      Am Nachmittag vor der Bescherung kam im Ersten Lassie. In dem Film mußten die Eltern von dem Jungen, dem Lassie gehörte, Lassie weggeben, weil sie zu arm waren, um einen Hund zu halten, aber Lassie riß aus und lief zurück.

      Es war das alte Lied: Einen Hund hätten wir haben müssen. Ich wäre schon mit einem Dackel mehr als zufrieden gewesen.

      Der Peugeot sprang nicht an, der Käfer auch nicht, und wir gingen zu Fuß nach Vallendar runter zum Weihnachtsgottesdienst.

      In der evangelischen Kirche war kaum noch Platz für uns. Wir mußten stehen, und ich sah nur die Pöter von fremden Leuten vor mir.

      Nun kommt der Heiden Heiland.

      Hinter uns ging andauernd die Tür auf, weil immer noch neue Leute reinwollten, und dann kam jedesmal ein eisiger Luftzug rein.

      Ich fragte Mama, was Kyrie eleison bedeute, und sie sagte, ich soll den Schnabel halten.

      »Alles Geschaffene redet den Frieden Gottes in Christo Jesu«, sagte Pfarrer Liebisch.

      Dann gingen wir die Sprungschanze hoch, wo ich ausglitschte und mir das rechte Handgelenk aufschlug.

      Für das Bescherungsfoto zog Mama sich ihre schwarze, von Renate gehäkelte Stola mit Muschelmuster an.

      Das größte Geschenk war vorne an den Kurbeltisch gelehnt, eine Carrerabahn für Volker und mich, mit Autos und Kurven und allem Pipapo.

      Wie ein rohes Ei sollten wir die Carrerabahn behandeln, sagte Mama, als wir uns darauf stürzten.

      Ich hatte auch Mokassins gekriegt, die Single Song of Joy, das Buch Die Insel der blauen Kapuzen von Wolfgang Ecke, ein Zauberlehrling-Spiel und aus Jever einen Tuschkasten.

      Volker hatte die Single Treue Bergvagabunden gekriegt und die Bücher Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Doktor Dolittle, Du und die Eisenbahn und Die Flußpiraten des Mississippi, auf englisch buchstabiert Em ei jesses ei jesses ei pipi ei.

      Wiebke beglückte reihum alle mit selbstgemachten Stickbildern: Katze vorm Kamin und Haus mit Baum daneben. Von Tante Therese hatte sie ein Kleid erhalten und vom Weihnachtsmann Rollschuhe und ein Bilderbuch: Der Fäustling.

      Renate hatte eine Armbanduhr, einen Mantel und schwarze Winterstiefel gekriegt und war überglücklich mit dem Zeug.

      Für Mama und Papa hatte ich mit Füller ein Weihnachtslied abgeschrieben. Es ist ein Ros’ entsprungen, aus einer Wurzel hart!

      Zart müsse das heißen, nicht hart, sagte Mama, und als Papa einen neuen Knirps auspackte und aufspannte, sagte Mama: »Ach du lieber Gott von Bentheim!«

      Der geschenkte Gaul von Hildegard Knef.

      Auf den bunten Tellern lagen dieses Jahr auch Pfeffernüsse und Blutorangen.

      Weil Papa Volker und mir dabei half, die Carrerabahn aufzubauen, fing Mama an zu weinen. »Ich hab geglaubt, wenigstens an Heiligabend wär mal Sense mit der verdammten Scheißbastelei!« rief sie und lief raus und schloß sich im Elternschlafzimmer ein.

      Da ging auch Papa raus und verschwand im Keller.

      Wiebke heulte, und Renate nahm sie auf den Schoß.

      Am ersten Weihnachtsfeiertag schlich ich mich frühmorgens ins Wohnzimmer, knackte Haselnüsse, klaute Schokoladenkugeln von den bunten Tellern meiner Geschwister und zog Wiebkes funkelnde Rollschuhe an, die mir aber ein paar Nummern zu klein waren.

      Mit dem Zauberlehrlingskasten verzog ich mich in den Hobbyraum. Zahlenstreifen, Würfel, Papphülsen, ein schwarzer Zauberstab und ein Heft mit Rechenkunststücken. Angenommenes Alter 22 Jahre, Geburtsmonat April: 4 × 2 = 8 + 5 = 13 × 50 = 650 + 22 (Alter) = 672 – 365 = 307 + 115 = 422. Das interessierte mich nicht die Bohne.

      Die Würfel sollte man anlecken, dann würden sie zur allgemeinen Verblüffung aneinander klebenbleiben.

      Besser war der Zaubertrick, bei dem jemand aus dem Publikum ein Geldstück unter ein Tuch legen sollte und alle nachfühlen durften, ob das Geldstück unterm Taschentuch liegt. Ein Gehilfe würde beim Nachfühlen das Geldstück klammheimlich wegnehmen und einstecken. Ich als Zauberer müßte dann bloß noch Hokuspokus Fidibus und Simsalabim sagen, das Tuch wegziehen und die Münze mit großem Trara aus der Hosentasche meines Gehilfen hervorzaubern.

      Beim ersten Mal war Volker mein Gehilfe, aber als er unterm Taschentuch das von Renate gespendete Markstück begrabbelt hatte und die Hand wieder wegzog, rief Renate: »Du hast das Markstück weggenommen!«

      Sollten die sich doch selbst was vorzaubern, wenn sie alles besser wußten.

      Die Carrerabahn bauten Volker und ich im Hobbyraum auf, was ein Riesengefriemel war mit allen Seitenklammern und Leitplanken und Steilkurvenständern.

      Volkers Rennauto war grün, meins gelb. Wenn man die Fahrer rausnahm, sah man, daß sie keine Beine hatten.

      Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld!

      In der Garage schweißte Papa neue Teile an die Karosserie vom Peugeot, riß sich zwei Finger auf und mußte von Herrn Rautenberg zum Nähen ins Krankenhaus transportiert werden.

      Frischlackierte Teile vom Peugeot hingen in der Waschküche an der Leine, zum Trocknen.

      Als nächstes riß und schraubte Papa auch den VW auseinander, weil der zum TÜV mußte.

      Im Ersten kam ein Abenteuerfilm mit einem indischen Maharadscha, aber das war ein eingebildeter Fatzke, und der ganze Film war stinklangweilig, außer als ein kinderfressender Tiger frei rumlief und als die Leprakranken aus dem Kerker ausbrechen wollten.

      Lästig an Weihnachten war, daß wir Bedankemichs schreiben mußten. »Geschenke kassieren und nicht mal danke sagen, das könnte euch so passen!«

      Die Briefe durften nicht auf die lange Bank geschoben werden, und man mußte auch einen Dreh finden, damit sie nicht zu kurz ausfielen.

      Liebe Oma! Auch ich möchte mich herzlich für alles bedanken. Den Tuschkasten kann ich gut brauchen. Die Farben heißen: Gelb, Orange, Zinnoberrot, Karminrot, Indischrot, Indischgelb, Ockergelb, Gebr. Sina, Gelbgrün, Blaugrün, Preußischblau, Ultramarinblau, Umbra, Schwarz.

      Viele Grüße von Deinem Martin!

      Das sei man ziemlich Nullachtfuffzehn, sagte Mama.

      Weil wir keinen fahrbaren Untersatz mehr hatten, mußte Mama zum Einkaufen zu Fuß durch den Schnee nach Vallendar und dann mit den vollen Taschen und zwei Milchkannen den Berg wieder raufpetten.

      Ohne Auto stehe man doch ziemlich auf dem Schlauch, sagte Mama am Telefon zu Oma Jever, und es sei allerhöchste Eisenbahn,