Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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es sogar auf Lummerland, wo nur vier Leute wohnten: Lukas der Lokomotivführer, König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, Frau Waas und Herr Ärmel. Bei denen wußte man nicht, von wem sie abstammten. In Entenhausen gab’s immerhin Onkel und Tanten und Oma Duck.

      Am gemütlichsten war’s, beim Lesen auf dem Rücken zu liegen und die Füße nur mit Strümpfen an zwischen die Heizungsrippen zu stecken.

      Falsch fand ich, daß Jim Knopf sich mit Prinzessin Li Si verlobte, die er aus der Drachenstadt befreit hatte. Li Si sammelte Muscheln und sang kreuzbescheuerte Lieder: Ich bin die Prinzessin Li Si, weil ich nicht will, mich finden nie sie! Hum didel dum, Schrum! Mit so einer hätte ich mich nicht abgegeben, wenn ich als Freunde schon Lukas den Lokomotivführer, den Halbdrachen Nepomuk und den Scheinriesen Herrn Tur Tur gehabt hätte.

      Lukas konnte einen Looping spucken. Ich versuchte das auch, im Garten, bis Mama die Terrassentür aufriß und rief: »Willst du wohl aufhören mit der Schweinerei!«

      Kalli kam zu Besuch und brachte einen großen Flitzebogen mit, den er zu Weihnachten gekriegt hatte. Als wir unter uns waren, zeigte er uns eine bis obenhin mit Knallkörpern gefüllte Zigarrenkiste: »Damit zeigen wir’s den Japsen!«

      Die Kiste und den Flitzebogen nahm Kalli mit, als wir ins Wambachtal gingen. Bis auf drei Ladykracher hoben wir die Knaller bis zur Höhle auf. Die zum Einsturz zu bringen, das wär’s gewesen!

      Kalli opferte drei Chinaböller. Lunten anzünden, rausrennen, Deckung suchen und sich die Ohren zuhalten.

      Der Rabatz und der Gestank waren nicht von schlechten Eltern, doch die Höhle überstand die Explosion.

      Von den Bäumen im Wambachtal konnte Kalli ausnahmslos sagen, was das für welche waren. Eichen, Erlen, Ulmen, Buchen und Weiden, bei denen in der Krone Misteln wuchsen.

      Mit dem Flitzebogen machte er Zielschießen, auch auf uns, und einmal traf er Volker mit dem Pfeil ins Ohr. Die Wunde blutete, und beim Nachhausegehen mußten wir Volker unterhaken. Kalli sagte, das sei nur eine Gehirnerschütterung, die lege sich von selbst.

      Wenn bei der Carrerabahn die Leitplanke lose war, mußte man aufpassen, daß einem die Karre auf der Außenspur in der Steilkurve nicht in hohem Bogen rausflog. In der Innenspur schlug das Auto nur kurz aus. Wenn beim Ausschlagen zufällig das andere Auto obendrüber in der Außenspur fuhr, wurde es aus der Bahn torpediert, und wir versuchten immer, das hinzukriegen.

      Überholmanöver und Karambolagen.

      Mama pinnte den neuen Jahreskalender an die Küchenwand und trug alle Geburtstage ein, auch von Freundinnen und Verwandten, von denen kein Mensch wußte, wer die waren.

      An Silvester gab es mittags Schnitzel. Volker und ich mußten uns eins teilen, und Papa säbelte es in zwei Teile. Wir wollten beide die größere Hälfte haben.

      »Es gibt keine größere Hälfte«, sagte Mama. Das sei ein Ding der Unmöglichkeit.

      Nach dem Essen rauchte Papa beim Kaffee im Wohnzimmer immer eine Zigarette. Diesmal lag am Aschenbecherrand schon eine bereit, in die Volker ein Knallplättchen aus Kallis Kiste hineinbugsiert hatte. Mama und ich waren eingeweiht.

      Wir warteten und warfen uns verschwörerische Blicke zu, aber Papa las immer nur Zeitung und trank Kaffee und beachtete die Zigarette überhaupt nicht.

      Volker schob den Aschenbecher dicht neben Papas Kaffeetasse.

      Immer noch Fehlanzeige.

      »Richard, deine Söhne wünschen sich nichts sehnlicher, als daß du diese Zigarette rauchst«, sagte Mama.

      »So? Und warum?«

      »Das wirst du dann schon sehen.«

      Papa runzelte die Stirn. »Ist da irgendwelcher Mist drin?«

      »Kann sein, kann aber auch nicht sein«, sagte Volker.

      Jetzt hatte Papa den Braten natürlich gerochen, tat uns aber trotzdem den Gefallen, die Zigarette anzuzünden, die er dann weit von sich weghielt.

      Nach einer Minute machte es leise poff. Vorne war die Zigarette auseinandergebröselt. Papa drückte sie im Aschenbecher aus und sagte, daß wir Kindsköpfe seien, Mama inbegriffen.

      Weisnahmsnase durften Volker und ich bis zum Feuerwerk aufbleiben und um Mitternacht im Garten Schlangenhütchen anzünden.

      Der Schnee lag jetzt fast einen halben Meter hoch, und alle gingen rodeln. Hinten im Wambachtal gab es einen Abhang, der so steil war, daß er die Todesbahn hieß. Wenn man Pech hatte, raste man beim Rodeln unten in einen Stacheldrahtzaun.

      Nur die Mutigsten fuhren die Todesbahn auf dem Bauch liegend runter, mit dem Kopf voran, was ich auch mal versuchte, aber noch bevor ich in Schwung kam, verließ mich die Traute.

      Absolute Scheiße war das Neujahrs-Skispringen im Fernsehen.

      Nachmittags kam schon wieder ein Film mit Lassie. Da gehörte er einem Tierarzt und war wasserscheu, aber als der Tierarzt im Schnee in Ohnmacht fiel, schwamm Lassie durch einen frostigen Fluß, um Hilfe zu holen.

      Flipper gehörte immer denselben Leuten, aber Lassie gehörte mal dem und mal dem. »Der muß ja ganz konfus werden«, sagte Renate.

      Im Garten bauten wir eine Schneeburg, in der Mama uns fotografierte, bevor sie Volker auf die Horchheimer Höhe brachte. Der durfte am nächsten Morgen bei einer Treibjagd mitmachen. Auf den Spuren seltener Tiere.

      Wenn ich alle Tiersprachen verstanden hätte, so wie Doktor Dolittle, hätte ich auch alleine auf Treibjagd gehen und ein Stoßmich-Ziehdich einfangen können, mit einem Kopf vorne und einem hinten.

      Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.

      In Wiebkes neuem Bilderbuch quetschten sich nacheinander eine frierende Maus, ein Frosch, eine Eule, ein Kaninchen, ein Fuchs, ein Wolf, ein Wildschwein und ein Bär in einen Fausthandschuh, den ein Junge im Wald verloren hatte. Als dann noch eine kleine Grille hineintapste, platzte der Handschuh mit Donnergetöse auseinander.

      Renate las das Buch von Hildegard Knef. Wie die Leute im Krieg von Panzern zu Matsch gefahren worden waren.

      Von der Treibjagd brachte Volker in einer Plastiktüte einen Hasen mit.

      Totenstarre und Leichengift.

      Papa band den Hasen in der Waschküche an den Hinterläufen an die Leine, wetzte auf der Werkbank in der Garage das große Küchenmesser am nassen Schleifstein und schnitt dem Hasen die Gurgel auf. Das Blut kleckerte in die weiße Emailleschüssel, in die sonst der Küchenabfall reinkam.

      Der Hase hatte dicke, dunkle Augen. Als Papa ihm mit dem Messer das Fell abzog, kamen Muskeln und Sehnen zum Vorschein, weiß und rot.

      Mama heizte den Backofen vor und fettete das Blech ein.

      Auf dem Hasenfleisch durfte man nur behutsam kauen, weil da noch Schrotkugeln drinsteckten. Außer den abgelutschten Kugeln wollte Volker auch den Schädel von dem Hasen aufheben.

      Bei Invasion von der Wega nähte Renate einen Kunstpelzbesatz an den Wintermantel, den sie von Tante Dagmar geerbt und schon auf Midi-Länge gekürzt hatte, weil das jetzt Mode war, und Papa sagte, wenn es Mode wäre, sich die Daumen blau zu kloppen, würde Renate das auch noch mitmachen.

      Am letzten Weihnachtsferientag fuhr Mama mit Volker und mir nach Koblenz zu Salamander, neue Schuhe kaufen.

      Oben auf der Rutsche saß ein störrischer Dreikäsehoch, an dem man nicht vorbeikam, aber zu den Schuhen gab es Bilderhefte mit Lurchi, Unkerich und Mäusepiep. Und im Chor schallt’s lange noch: Salamander lebe hoch!

      Über Nacht hatte es geschneit. Der Schulbus konnte nur ganz langsam fahren, und die Heizung ging nicht. Der Lauterberg hatte Handschuhe an, Mütze auf und Schal um und nieste das Armaturenbrett an.

      Ich steckte neue Tintenpatronen in meinen Füller. Die leeren Patronen gab ich Andreas König, weil der die Kügelchen