Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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ich das über mich ergehen lasse.

      Mama hatte Sternchennudelsuppe gekocht, aber ich war nicht dafür zu haben, obwohl ich Sternchennudelsuppe sonst immer die Note 2 gab. Ich hatte Kopfweh und Halsweh.

      Doktor Kretzschmar kam und stellte fest, daß meine Mandeln rausmußten oder meine Bronchien und Polypen. »Nach der Operation wirst du leichte Schluckbeschwerden haben«, sagte Doktor Kretzschmar, »aber dafür darfst du pfundweise Schokoladeneis mampfen!«

      In dem Krankenhauszimmer, in das ich kam, lagen noch fünf andere Jungen. Einer hatte was an der Stirnhöhle und kriegte jeden Abend eine superlange Spritze in die Nase. Das hätte ich nicht ausgehalten. Mir taten schon immer die Spritzen in den Po so weh, daß ich schreien mußte. Einmal stach mir eine Schwester die Spritze so tief rein, daß die Spritzenspitze auf dem Knochen im Arsch kratzte.

      Ein anderer Junge brachte mir den Trick bei, beim Spritzenkriegen ins Kopfkissen zu beißen. Das half.

      Bis zur Operation war ich noch froh, weil ich im Bett liegen konnte, während die anderen Kopfrechnen hatten. Schadenfreude ist die reinste Freude.

      Damit war es nach der Operation vorbei. Vor Halsschmerzen konnte ich überhaupt nicht mehr schlucken. Ich sabberte in eine Schale und mochte nicht mal das Eis, das mir Mama mitgebracht hatte.

      Sie kam jeden Tag, aber einmal sagte sie: »Morgen geht’s nicht, da mußt du tapfer sein, kannst du mir das versprechen?«

      Ich versprach ihr das, aber als mir in der Besuchszeit am anderen Tag klar wurde, daß ich der einzige Junge im Zimmer war, der in die Röhre kucken mußte, tat ich mir so leid, daß ich so leise, wie es ging, in mein Kissen flennte.

      Und dann kam Mama doch noch, und sie hatte einen großen Umschlag mit Briefen für mich dabei, von allen meinen Mitschülern. In der Schule war das Thema Post durchgenommen worden, und da hatten alle als Hausaufgabe gekriegt, mir einen Brief zu schreiben.

      Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn!

      Mehr oder weniger hatten mir alle das gleiche geschrieben. Daß sie die Post durchnehmen, mit der ganzen Klasse im Zoo gewesen sind und mir alles Gute wünschen. Am kürzesten war das Schmierakel von Benno Anderbrügge: Liber Martin! Im Zoo Sind mit drer (gnazen) ganzen Klase (gewe) gwesn und da War Die löwn pfütter wor dei Benno!

      Drei von den vier Gabrieles hatten auf ihre Briefe Abziehbilder von Blumen und von Kätzchen gepappt, und Melanie Pape hatte lilanes Briefpapier mit aufgedruckten Igeln ausgewählt.

      Die kleinste Schrift von allen hatte Michael Gerlach, wie Fliegenschiß, aber sein Brief gefiel mir am allerbesten: Lieber Martin, sei bloß froh, daß Du Dich im Krankenhaus ’rumtreiben kannst. Das bißchen Mandeloperation kann nicht so wehtun wie der Anblick der Irren, die sich gestern bei unserm Zoobesuch vorm Löwenkäfig tummelten, um zuzuschauen, wie die Raubtiere ihre Zähne in ein Menschenbaby schlugen. Ich glaube jedenfalls, daß es ein Menschenbaby war. Sehr viel sehen konnte ich nicht, weil ich hinten stand und die Omme von Torsten Hommrich vor mir hatte. Einstweilen gute Besserung!

      Angela Timpe war die einzige, die mir keinen Brief geschrieben hatte. Dafür kriegte sie, als ich wieder in der Klasse war, noch einen Anranzer von Frau Katzer. Wenn Angela mal krank sei, werde sie von keinem einzigen aus der Klasse was kriegen, nicht einmal ein Fitzelchen von einem Kärtchen mit Genesungswünschen.

      Dann fingen die Osterferien an.

      In Volkers und meinem Zimmer war Oma Schlossers alter Kleiderschrank aufgestellt worden. Der eine Knauf war lose, aber man konnte allen überschüssigen Krimskrams oben auf den Schrank ballern, und innendrin war Platz genug für Volkers und meine Wäsche.

      Renate zeigte mir die Fotos, die Papa von ihr im Wohnzimmer geschossen hatte. Da trug sie ein knöchellanges, mit Mamas Hilfe genähtes Kleid mit Blumenmuster, Puffärmeln und viereckigem Ausschnitt, eine von Mamas Broschen am Kragen und ein Samtband um den Hals, damit man den Leberfleck nicht so sah.

      Wenn Papa samstags aus der Wanne kam, schmierte er sich die Haare mit Fit von Schwarzkopf ein und kämmte sie straff nach hinten. Im Badezimmer konnte man danach kaum atmen vor Wasserdampf und Zigarettenqualm.

      Neu war, daß sich jeder von uns eigenes Wasser in die Wanne laufen lassen durfte. Ich wußte nicht genau, was ich lieber wollte, im eigenen Wasser baden oder im Wohnzimmer weiter beim Grand Prix d’Eurovision zukucken. Für Deutschland war Katja Ebstein im Rennen, aber die hatte schon gesungen, und Renate sagte, bis zur Entscheidung werde es noch Ewigkeiten dauern.

      Ich legte mich in die Badewanne und ließ mir gelegentlich von Wiebke oder Renate Bericht erstatten. Aus Papas Schreibtisch hatte ich Streichhölzer gemopst. Mit denen zündete ich meine Furzblasen an und alarmierte dann mit der Brause als Telefonhörer die Feuerwehr.

      Katja Ebstein schnitt gut ab, aber ihr Abstand zu den Spitzenreitern war zu groß, und sie kam nur auf Platz drei.

      Im Wambachtal hangelten Volker und ich uns an abgebrochenen Ästen lang, die wir über den Wambach gelegt hatten. Als einer von den Ästen durchbrach, fiel ich in voller Montur ins Wasser und mußte quaddernaß nachhause laufen. Volker lachte sich scheckig. Ich im Wambach, das sei ein Bild für die Götter gewesen.

      Weil ich die Röteln hatte, mußte ich über Ostern wieder im Bett bleiben. Ich baute mein Wildwestfort auf, mit allen Cowboys und Indianern, und am Ostersonntag zog ich überm Frotteeschlafanzug mein altes Prinzenkostüm an.

      Aus Langeweile spielte ich Mensch ärgere Dich nicht mit mir selbst, auf der Rückseite vom Brett, wo die Bahn länger war, mit acht Parteien. Hellblau, Dunkelblau, Hellgrün, Dunkelgrün, Gelb, Rot, Schwarz und Lila. Die Spielfelder und die zweiunddreißig Figuren hatte ich mit dem Kuli numeriert, damit ich die Züge aufschreiben und später alles nochmal nachspielen konnte. Rot würfelt 5, zieht Nr. 3 von Feld 36 auf Feld 41 und schlägt Grün Nr. 2. Oder abgekürzt: R5 3 36 41 x G2.

      Weil ich für alle immer den besten Zug aussuchte, selbst für die lilanen Figuren, die wie aus Rotkohl aussahen, zog das Spiel sich in die Länge. Da kam nie einer ans Ziel, und als ich acht Seiten vollgeschrieben hatte, gab ich’s auf.

      Aus der Stadt brachte Mama mir zum Trost ein Buch und einen Hüpfball mit, knallig orange, mit blauem Griff. Damit durfte ich einmal kurz durchs Zimmer hüpfen, das mußte genügen, weil Doktor Kretzschmar mir Bettruhe verordnet hatte.

      Wenn so ein Hüpfball mal geplatzt wäre, wie das wohl geknallt hätte.

      Das Buch war über einen Försterjungen. Wie er mit seinem Vater Heiligabend in den Wald geht und in eine Wildschweinsuhle Eicheln und Kastanien schüttet, als Bescherung für die Wutzen, oder wie er und seine Freunde einen Wilderer hopsnehmen oder wie sie mit Zündpulver ein Silo zur Explosion bringen und noch tagelang bestialisch nach Gülle stinken.

      Dann kreuzte Melanie Pape auf. Ich zog mir die Decke über den Kopf und weigerte mich, auch nur Guten Tag zu sagen. Ein Mädchen, das einen Jungen besucht, der im Schlafanzug im Bett liegt, das durfte ja wohl nicht wahr sein.

      Unter der geknüllten Decke liegen und durch ein winziges Kuckloch lugen: So mußte man sich fühlen, wenn man in einer Höhle verschüttet war.

      Melanie stand im Zimmer rum, aber ich blieb stur, was Mama als Anstellerei bezeichnete.

      »Wer nicht will, der hat schon«, sagte Melanie und ging weg.

      Uff.

      Nach einer Woche war ich wieder auf den Beinen und fuhr mit Volker zum Fußballplatz, bolzen. Die Räder nahmen wir mit rein und ließen sie auf dem lehmigen Rasenhang vor der Aschenbahn liegen.

      Dann sahen wir, daß Qualle sich an Volkers Rad zu schaffen machte. »Laß mein Rad in Ruhe!« rief Volker, aber Qualle sagte, das sei seins. Das erkenne er unter Tausenden, und zwar an dem Stück Lehm hinten am Rückspiegel. In Wahrheit klebte das da erst, seit Volker das Rad auf den Rasen gelegt hatte.

      Qualle machte Anstalten, mit dem Rad wegzufahren, aber Volker hielt es am Gepäckträger fest. Ich schnappte mir mein eigenes