Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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hatte ich schon wer weiß wie oft verstoßen, aber das behielt ich für mich. Melanie Pape wollte wissen, was mit Notlügen sei, ob man da eine Ausnahme machen dürfe.

      »Strenggenommen nicht«, sagte Frau Frischke. Auch Notlügen seien Lügen. »Es gebe aber Grenzfälle, wo dem Nächsten mit einer Notlüge mehr geholfen sei als mit der Wahrheit.«

      Also doch. Dann war ich beim achten Gebot aus dem Schneider. Meine Lügen waren immer Notlügen gewesen. Ohne Not hätte ich ja überhaupt nicht lügen müssen.

      In der Turnstunde hätten wir auf dem neuen Trampolin hüpfen sollen, aber das war weggestellt worden, weil ein Mädchen aus einer anderen Klasse beim Springen auf die Trampolinkante geknallt war und sich den Fuß gebrochen hatte. Mit Tatütata ins Krankenhaus, und Herr Jungfleisch hatte vor der Turnhalle gestanden und sich hinten am Kopf gekratzt.

      Stattdessen mußten wir jetzt um Holzkegel wetzen und an der Sprossenwand Übungen machen, von denen man Muskelkater im Bauch kriegte. Im Hängen die Beine anziehen, Knie an die Brust.

      »Ächz, keuch, stöhn«, sagte Michael Gerlach, als er da baumelte.

      In Heimatkunde ging uns Frau Katzer mit dem Rheinischen Schiefergebirge auf den Keks. Der Westerwald ist der nördlichste Teil des Rheinischen Schiefergebirges. Seine Grenzen heißen Sieg im Norden, Rhein im Westen, Lahn im Süden. Das Rheinische Schiefergebirge besteht aus fünf Teilen: Westerwald, Taunus, Eifel, Hunsrück und Süderbergland.

      Wo jetzt der Rhein floß, sei früher ein Urstromtal gewesen, hoch überflutet und voller Plankton.

      Das Deutsche Eck, aus Schwarzwälder Granitquadern errichtet, stehe auf einem Untergrund von Niedermendiger Basalt. Und gegenüber der Ehrenbreitstein: Da hätten schon die alten Römer eine Befestigung gebaut. Niemals mit Waffengewalt bezwungen worden. Kurfürst Klemens Wenzeslaus, 1739–1812.

      Nach dem Schiefergebirge war das Kannenbäckerland dran. Frau Katzer diktierte. Der Mittelpunkt des Kannenbäckerlandes ist Höhr-Grenzhausen. Schon vor Jahrhunderten wurde in dieser Gegend Ton gefunden, eine weiße, fettglänzende Erde. Auch heute noch geben die Tonlager vielen Menschen Arbeit. Ein Teil des Tons kommt nach Neuwied und wird dort zu Zement verarbeitet. Der größte Teil aber wird im Kannenbäckerland verwertet. Er wird von großen Kränen ausgegraben, dann geschlämmt oder gereinigt. Dieser vorbearbeitete Ton wird auf der Töpferscheibe zu Vasen, Schalen oder anderen Gefäßen geformt. Anschließend müssen die Tonwaren an der Luft getrocknet werden, erst danach werden sie in Öfen gebrannt. Die Hitze beträgt 1200 bis 1400 Grad Celsius. Für die Glasur kommt Kochsalz in den Ofen. Wenn die Waren fertig gebrannt sind, werden sie verpackt und verschickt.

      »Wenn die Katzer auf dem Kannenbäckerland so lange rumreitet wie auf dem Rheinischen Schiefergebirge, nippel ich ab«, sagte Michael Gerlach in der Pause.

      Mit der ganzen Klasse sollten wir eine Vasenfabrik besuchen. Beim Broteschmieren platzte Mama der Kragen: »Weshalb muß auf Klassenausflügen eigentlich zehnmal soviel gefressen werden wie sonst?«

      In der Fabrik war es staubig und laut, und die Arbeiter waren pampig und schrien rum. Bloß kein Kannenbäcker werden.

      Ich sammelte Vasenscherben vom Boden auf, die ich auf der Rückfahrt im Bus mit Stephan Mittendorf seinen verglich. Welche wohl kostbarer waren.

      Der gebrochene Pfeil sah auch Mama sich an, obwohl sie für Wildwestfilme nichts übrig hatte, aber der hier war mit James Stewart, und den mochte sie leiden.

      James Stewart konnte Rauchzeichen machen. Er operierte einem Indianerjungen Schrotkugeln aus dem Rücken und verbündete sich mit dem Apatschenhäuptling Cochise, der verteufelte Ähnlichkeit mit Oma Schlosser hatte, wenn man sich die Indianersachen wegdachte. Wie aus dem Gesicht geschnitten.

      Von den Weißen wurden die Apatschen immer nur aufs Kreuz gelegt.

      Einmal mußte Volker nachsitzen und hatte dann noch Turnen, und ich sollte ihm den vergessenen Turnbeutel bringen. Viel Lust hatte ich nicht, aber Mama setzte mich in Marsch.

      In der Schule mußte ich den Hausmeister fragen, wo die Nachsitzer Unterricht hatten. Das Klassenzimmer fand ich, aber nicht Volker. Da tobten die Großen und rissen mir den Beutel weg. Ein verknöcherter Pauker krickelte was an die Tafel, mit dem Rücken zur Klasse, wo unter großem Gejohle der Turnbeutel rumgeschmissen wurde. Frau Katzer wäre hochgegangen wie Apollo 16, wenn wir uns bei der so aufgeführt hätten, aber der alte Knacker vorne drehte sich nur halb rum, blinzelte über die Brille weg und sagte: »Ta, ta, ta, ta, ta!«

      Irgendwer schmiß den Turnbeutel aus dem Fenster auf den Schulhof, und ich machte mich aus dem Staub. Sollte Volker doch ohne seinen Turnbeutel selig werden. Das war das letzte Mal, daß ich Volker was hinterhergeschleppt hatte.

      Am Sperrmülltag rettete Papa auf unserer Straße einen defekten Benzinrasenmäher vor der Reise in die ewigen Jagdgründe und brachte viele Abende damit zu, den zu reparieren, aber immer fehlten noch Teile.

      Das feuerrote Spielmobil mit Maxifant und Minifant und den Stoffhunden Wuff und Biff war mehr was für Wiebke. Ich war zu alt dafür.

      In der Klasse kriegte ich an meinem zehnten Geburtstag ein Ständchen. Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, aber ich konnte es kaum abwarten, wieder nachhause zu kommen, weil ich meine neuen Platten hören wollte. Die Armbanduhr, mein Hauptgeschenk, hatte ich schon an.

      Auch Sachkunde ging mir am Arsch vorbei. Was Kürschner sind und wie man Leder gerbt.

      »Deine Schallplatten laufen dir schon nicht weg«, sagte Mama. Ich mußte ihr beim Wäschesprengen helfen. Die Laken an zwei Ecken festhalten, und Mama spritzte aus einer Siebflasche Wasser drüber.

      Auf der 3x9-LP waren Schlager von Roy Black und Anita, Bata Illic, Karel Gott, Daliah Lavi, Reinhard Mey, Katja Ebstein und Chris Roberts und dazu noch Musik von Max Greger und James Last.

      Eine Fuge von Bach erinnert mich an dich. Renate sagte, Roy Black sei ein Sülzbubi. Was der sich zusammenschluchze, sei Kitsch in höchster Potenz, aber ich wollte mir die LP nicht madig machen lassen. Akkordeon, Akkordeon, ich träume heute noch davon. Zwei Mark gingen an die Aktion Sorgenkind.

      Volker und Renate hatten ihre Penunze zusammengelegt und eine Single von Tony Marshall für mich erstanden. Wir singen Tralala und tanzen Hoppsassa.

      Ein Sprichwörterquartett, von Onkel Dietrich ein Karl-May-Album und von Oma Jever und Tante Gertrud je fünf Mark. Davon kaufte ich mir die Singles Jeder Abschied kann ein neuer Anfang sein von Freddy Quinn und Du lebst in deiner Welt von Daisy Door auf Ariola. Auf der B-Seite war ein Instrumentalstück, Jericho Angels, ohne Gesang und eigentlich Betrug am Kunden. Da drückte man fünf Mark für eine Single von Daisy Door ab, und dann war hinten gar nichts drauf von der.

      Zu Mittag gab es Gänseklein und Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Da konnte man mit dem Löffel Krater ausbaggern und die Soße reinlaufen lassen.

      Das Quartett war mit Bildern. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, wo gehobelt wird, da fallen Späne, wer zuletzt lacht, lacht am besten und Gelegenheit macht Diebe. »Reißt mich nicht vom Hocker«, sagte Volker, als wir das erste Mal damit gespielt hatten.

      Er war mehr für mein Karl-May-Album zu haben, aber mich ließ das kalt.

      Von dem Umzug nach Amerika war keine Rede mehr. Dafür hatten Mama und Papa jetzt vor, im Urlaub mit uns allen nach Italien zu fahren. Mit dem Peugeot über die Alpen und dann an die Adria. Volker und ich waren Feuer und Flamme dafür.

      Am Tag der Arbeit saß Renate auf der Terrasse und lernte was für Geschichte, und der Sohn vom Walroß geierte immer über den Zaun zu ihr rüber. Nicht ganz dicht, der Fidi.

      Seit er mir mal sechzig Pfennig gepumpt hatte, war Volker mein Gläubiger und jaulte mir die Ohren voll wegen dem Geld. Von Rechts wegen war ich ja ein Krösus, aber wenn ich an meinen Schotter wollte, mußte ich den Tresor knacken, da führte kein Weg dran vorbei.

      Durch Drehen und Ziehen und Ruckeln kriegte