Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Dann stolzierte er zum Sprungturm, der Scheißkerl, um sich vor Piroschka mit seinen Künsten zu brüsten, und ich ging zum Wildwestfort am unteren Ende der Freibadwiese, aber das war bis an die Schneidezähne voll mit kreischenden Kleinkindern.

      Umziehen konnte man sich in den Kabinen vorne am Eingang oder in einer von den Zeltspiralen auf der Wiese. Vorne eine Kette einhaken und im Inneren der Spirale die nasse Badehose ausziehen und auswringen.

      Piroschka war schon weg.

      In Heimatkunde hatte ich eine Vier im Zeugnis, aber das war mir egal. Sommerferien! Pofen bis neun, nach den Ferien in Koblenz aufs Gymnasium gehen und nie wieder mit dem Schulbus nach Vallendar fahren! Der Lauterberg konnte mir den Buckel runterrutschen und Frau Katzer desgleichen, mitsamt dem Kannenbäckerland und dem Rheinischen Schiefergebirge.

      Michael Gerlach wollte mir die Sporkenburg zeigen, eine jott weh deh gelegene Ruine, zu der man nur mit dem Fahrrad hinkam.

      Wem Gott will rechte Gunst erweisen. Hinter Simmern stand ein ausgebrannter Unfallwagen am Straßenrand. Wir setzten uns vorne rein, ließen die Zunge raushängen und machten Glotzaugen, so als ob wir gerade abgekratzt wären. Ein Autofahrer hielt an und sah erschrocken zu uns rüber, bis er merkte, daß wir ihn veräppelt hatten, und da ließ er eine Schimpfkanonade auf uns los.

      Im Wald neben der Straße war ein Trimm-dich-Pfad, wo man auf Balken balancieren und über Hürden hüpfen sollte. »Da kann ich mich auch gleich die ganzen Ferien über in der Turnhalle einschließen lassen«, sagte Michael.

      Zwischen Simmern und Neuhäusel ging die Straße einige Male hoch und wieder runter, so daß man Schwung holen konnte für die Steigungen, die komischerweise von weitem immer viel steiler aussahen als aus der Nähe.

      Von Neuhäusel mußten wir noch bis Eitelborn strampeln. Dann in den Wald, scharf bergab, mit angezogener Handbremse. Steinen ausweichen, damit man keinen Platten kriegte. Das hätte noch gefehlt.

      Nach einer Kurve führte der Weg wieder rauf, und da war sie, die Sporkenburg, mit himmelhohen Mauern. Abgesehen von zwei vollgeschissenen Kellerzimmern waren die Außenmauern alles, was von der Sporkenburg noch übrig war. Wenn wir schwindelfrei gewesen wären, hätten wir auf die Mauer krabbeln können, immer höher und höher, bis zu dem einen Eckturm, aber wir schafften nicht mehr als die ersten Meter, und auch die nur mit Überwindung.

      Hier hatten früher Ritter ihre Turniere ausgetragen und Feinden, die die Burg belagerten, von den Zinnen aus siedendes Pech übergekippt. Musketiere mit Katapulten und blinkenden Hellebarden. Oder Hexen verbrannt, im Burghof, wo erst vor kurzem wieder irgendwer Feuer gemacht hatte. In der Asche lag eine zerknickte Fantabüchse.

      Auf der Rückfahrt kam uns kurz vor Simmern ein Porsche entgegengerast, und dann hörten wir es hinter uns quietschen und scheppern.

      Der Porsche war gegen einen Baum gerasselt, aber der Fahrer lebte noch. Der stand neben dem Wagen und rauchte. In gebührender Entfernung warteten wir auf das Eintreffen der Polizei. Wir könnten ja als Unfallzeugen gebraucht werden, dachten wir, aber als ich einem von den Polizisten meine Hilfe anbot, sagte der bloß: »Mach dich vom Acker.«

      Dann eben nicht. Sollten die doch zusehen, wie sie ohne uns klarkamen.

      In der Bäckerei neben dem neuen Sparladen in der Gutenbergstraße sollte ich Kaffee kaufen, ein Pfund Eduscho mild gemahlen, aber von wegen mild: Das Mahlen war so laut, daß man sich die Ohren zuhalten mußte.

      Mit Volker fuhr ich zu den Fischteichen an der Straße zwischen Hillscheid und Vallendar. Dicht am Ufer schwammen Kaulquappen. Ich fischte welche raus und legte sie auf den Holzsteg. Dann mußte ich pissen, und als mir die Kaulquappen wieder einfielen, waren sie schon tot und vertrocknet.

      Quäle nie ein Tier im Scherz.

      Links von dem Weg ins Wambachtal waren Bäume gefällt worden. In den Kronen konnte man gut rumklettern, wie in einem Labyrinth. Da spielten Michel Gerlach und ich Danny Wilde und Lord Brett Sinclair. Einen Ast zur Seite biegen: »Darf ich Euer Sippschaft die Pforte aufpforten?«

      »Ich bitte darum, denn sonst fliegt gleich ein Satz warmer Ohren durch die Luft.«

      »Bitte nicht, Euer Durchlocht, sonst werdet Ihr das Gepökelte aus der Schnabeltasse lutschen!«

      Michael Gerlach Lord Siegelverkleber nennen und sein Taschenmesser als Hosentaschenaxt bezeichnen. »Sehr wohl, Euer Merkwürden.«

      Auf einem Stein saß eine Eidechse. Vielleicht war das eine von denen, die beim Fliehen den Schwanz abwarfen. Ich wollte sie mir schnappen, aber plötzlich war sie weg, von einer Sekunde auf die andere.

      Als ich nachhause ging, machte ich wieder den Umweg über die Rudolf-Harbig-Straße, wurde von einem Platzregen überrascht und war bald naß bis auf die Haut. Der Regen rauschte, ich rannte, und dann sah ich eine Frau, die in der Haustür stand und winkte und mir zurief, daß ich reinkommen soll, mich unterstellen. Piroschkas Mutter war das. Neben ihr stand Piroschka. Die winkte auch.

      Ich rief zurück, daß ich es nicht mehr weit hätte, und rannte weiter.

      Im Badezimmer raufte ich mir die Haare und streckte meinem Spiegelbild die Zunge raus. Wenn Doofheit wehtäte! Da bietet sich die einmalige Chance, bei Piroschka zuhause darauf zu warten, daß der Regen aufhört, und mit Piroschka Monopoly zu spielen oder was weiß ich, und was macht Martin Schlosser? Galoppiert weiter, der Dämel. Hat sein Gehirn an der Garderobe abgegeben.

      Renate arbeitete wieder in der Kaufhalle, wo sie kassieren mußte und die Wühltische aufräumen. Eine Frau, die da beim Klauen erwischt worden war, hatte versucht, durchs Klofenster zu entkommen.

      In Jever konnte ich meiner Sammlung drei neue Pfauenfedern einverleiben. Außer Mama und mir war nur Wiebke mitgekommen. Renate wollte lieber in der Kaufhalle schuften, und Volker weilte mit Kasimirs an der Adria.

      Wir fuhren zu einem Bauernhof bei Waddewarden, der einer alten Frau gehörte, einer Schulfreundin von Oma. Die Frau hatte drei Söhne, alles Hünen, die noch bei ihr wohnten. »Die haben Hände wie Klosettdeckel«, tuschelte Gustav mir zu.

      Die Mutter von der Bauersfrau war schon fast hundert Jahre alt. Sie saß in der Küche auf einem Stuhl neben dem Ofen und sah so ähnlich aus wie des Teufels Großmutter auf dem einen Bild in Grimms Märchen, wo des Teufels Großmutter dem nackten Teufel die Haare entlaust.

      Auf dem Bauernhof gab es Kälbchen, Kühe, Katzen, Schweine, Hühner und einen Heuboden. Beim Rumtoben sollte ich auf Forken achten im Heu. Mama war als Kind mal auf die Zinken einer Forke gesprungen und hatte den Stiel an die Stirn geknallt gekriegt.

      Zum Tee gab es Weißbrot, das die Bauersfrau selbst gebacken hatte. Ich verschlang zwölf Schnitten mit Honig, und der eine von den Söhnen sagte: »De Jung hett awer ’n gesünn Aftiet.«

      Nach dem, was Mama erzählte, hatte Papa in den fünfziger Jahren nach der Maloche im Pütt manchmal zwanzig Stullen verschrotet. Oder Pillen, was damals in Dortmund der Name für Stullen gewesen war.

      In der Hörzu stand was über einen Jungen, der sich das Schienbein angestoßen und Knochenkrebs gekriegt hatte. Alles zerfressen, da hätten die Ärzte nichts mehr machen können, und der Junge sei qualvoll gestorben.

      Ich befühlte meine Schienbeine, die ich mir schon oft irgendwo angestoßen hatte. Die Knochen waren uneben. Wenn ich Knochenkrebs hatte, dann im Endstadium.

      Ich behielt das für mich, sonst hätte ich vielleicht den Rest meiner Tage im Krankenhaus verbringen dürfen.

      Oma und Opa schenkten uns eine Reise nach Helgoland.

      Auf der Fähre erhielt ich ein Stück Mohnkuchen und eine Cola mit Strohhalm. »Da halt dich man dran fest«, sagte Oma. »Das muß reichen, bis wir da sind!«

      Von dem kleinsten und gemeinsten Mann bis rauf zum Kapitän.

      Meine Cola reichte nicht mal eine Minute lang. Ich wollte lieber hoch aufs Deck als weiter in der stickigen Budike vor meinem leeren Glas sitzen