Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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ich es verkehrtrum eingelegt hatte, mit der schwarzen Seite nach oben, war hinterher ein Riesenschmierfleck im Buch.

      Drei drei drei, bei Issos Keilerei. Die ollen Griechen auf den Bildern hatten alle superkleine Piepmätze.

      Den schweren Diercke-Atlas, den wir in Erdkunde brauchten, hatte ich von Volker geerbt, mit Randbemerkungen in dessen Sauklaue und mit allen Tintenklecksen, die er da im Lauf der Jahre hineinpraktiziert hatte. Die Gefrierdauer der Flüsse und das Werden der heutigen Kulturlandschaft. Kalisalze, Braunkohle, Erdgas und Eisenerz.

      In Erde meldete ich mich jedesmal zum Austreten, wartete auf dem Flur, bis der Sekundenzeiger oben war, und rannte los. Einmal schaffte ich die Strecke bis zum untersten Klo in weniger als zwanzig Sekunden.

      In diesem Scheißhaus wohnt ein Geist, der jeden, der hier sitzt und scheißt, von unten in die Eier beißt.

      Wer das liest, ist doof.

      Wenn kein Unterricht war, wurde Skat gekloppt. In der großen Pause, in der kleinen Pause und in den Pausen zwischen den Stunden, immer und überall rotteten sich Schüler zusammen, holten die Karten raus, brüllten und fluchten und waren nicht mehr ansprechbar. Am schrillsten schrie Jesu Christi, vor allem, wenn ihm jemand von hinten ins Blatt kucken wollte.

      Von den Kartenspielern hielt ich mich fern, aber auch von den Dösköppen, die sich die Hälfte jeder Pause in der Schlange vor der Hausmeisterluke die Beine in den Bauch standen, um Teilchen und Kakao zu kaufen. Dafür hätte ich auch kein Geld gehabt.

      Ich lungerte mit Erhard Schmitz und Boris Kowalewski beim Fahrradständer rum. Erhard Schmitz, ein Kraftpaket aus Neuendorf, kam jeden Morgen mit seinem Peugeot-Rennrad zur Schule. Zehn Gänge hatte das, und er paßte in den Pausen wie ein Schießhund darauf auf. Boris Kowalewski war klein und dünn, aber er hatte lange blonde Haare und die größte Fresse von allen. »Du hast da ’n Pickel. Oder soll das dein Kopf sein?« Von solchen Sprüchen hatte der Hunderte in petto. »Hier zieht’s, mach’s Maul zu!«

      Einer in der Klasse hatte Asthma, Frank Töpfer, eine Bohnenstange mit Hängeschultern und vorquellenden Knopfaugen, wie bei Heino fast. In Sport schied Frank Töpfer immer schon nach wenigen Minuten aus, und wenn er konnte, rückte er einem auf den Pelz und ließ Horrorgeschichten über seine Krankheit vom Stapel, wie schwer die sei und wie oft er zum Arzt müsse.

      Wenn ich nach der fünften Stunde freihatte, ging ich ins Gewa am Zentralplatz, mit der bunten Spirale vornedran, die sich drehte, oder in die Löhrstraße zum Kaufhof, Langspielplatten ankucken, die ich mir gekauft hätte, wenn ich reich genug gewesen wäre. Am Tag, als Conny Kramer starb. Musikalisches Gerümpel von Insterburg & Co. und ein halbes Dutzend Platten von Reinhard Mey: Alles, was ich hahabe, ist meine Küchenschahabe, sie liegt auf meinem Ohofen, da kann sie ruhig pohofen.

      Bei den Rolltreppen mußte man aufpassen. Eine Mitschülerin von Renate hatte mal gesehen, wie eine Frau mit den Haaren in die Rolltreppe gekommen und richtiggehend skalpiert worden war.

      Das ganze Jahr den Schuh von Lahr.

      Wenn es ging, setzte ich mich im Bus ganz vorne hin oder auf einen von den erhöhten Sitzen über den Reifen. An der Seite hing ein Hämmerchen. Notausstieg. Bei Gefahr Scheibe einschlagen.

      Während der Fahrt durfte man sich nicht mit dem Fahrer unterhalten.

      Sitzplätze: 48. Stehplätze: 52.

      Hinter Ehrenbreitstein war Steinschlaggefahr. Da hätte mal ’ne Lawine runterkommen sollen. Peng, batsch, boing! Voll auf die Straße, so daß da für den Bus eine Woche lang kein Durchkommen mehr gewesen wäre.

      In Urbar waren die Straßen so schmal, daß der Bus alle paar Meter hinter geparkten Wagen halten und den Gegenverkehr vorbeilassen mußte.

      Einmal nahm ich alle meine Platten und noch welche von Renate und Volker zu Michael Gerlach mit. Alles von Freddy, Heino, Bruce Low, Daisy Door, Danyel Gerard und Cat Stevens, aber dann stellte sich raus, daß Gerlachs keinen Plattenspieler hatten.

      Sechs Kinder und keinen Plattenspieler im Haus! Verrückt.

      Eine Zeitlang war beim Abendbrot Erdnußbutter der letzte Schrei, bis Wiebke und ich uns dadran überfressen hatten.

      Bei den Olympischen Spielen gewann Heide Rosendahl eine Goldmedaille im Weitsprung, mit Brille auf. Ich fand aber auch Olga Korbut gut, die russische Turnerin. Auf dem Schwebebalken Rad schlagen vor einer Milliarde Fernsehzuschauern in aller Welt, das war nicht von Pappe.

      Verzichten können hätte ich dagegen auf Kanuslalom, Florettfechten, Rudern und Stabhochsprung der Herren.

      Und dann die Geher. Ich war auch für Bernd Kannenberg, aber fünfzig Kilometer so zu gehen, wie mit vollen Hosen? Da machte der Speerwerfer Klaus Wolfermann eine bessere Figur.

      Oder Ulrike Meyfarth, obwohl ich erst gedacht hatte, daß das die Terroristin sei. Und Shane Gould, die Schwimmerin aus Australien: dreimal Gold, einmal Silber, einmal Bronze. Fünfzehn war die, und ich war zehn und hatte noch nicht mal den Freischwimmer.

      Am allerbesten war Mark Spitz mit seinen Goldmedaillen in der 4 × 100-m-Freistilstaffel, in 200-m-Delphin, 200-m-Freistil, in der 4 × 200-m-Freistilstaffel, in 100-m-Delphin, 100-m-Freistil und in der 4 × 100-m-Lagenstaffel. Das sollte dem mal jemand nachmachen.

      Als ich von der Schule kam, machte Mama die Tür auf und sagte, daß was ganz Entsetzliches passiert sei. Araber hätten die israelische Olympiamannschaft überfallen und schon zwei von den Sportlern umgebracht. Und das in Deutschland, wo wir doch nun gehofft hätten, daß die anderen uns die Nazivergangenheit endlich vergeben könnten.

      Behämmert war, daß deswegen der Film über die Abenteuer des Robin Hood aus dem Programm genommen wurde. Hätten die verdammten Araber nicht in der Wüste bleiben können, bei ihren Wasserpfeifen und Kamelen?

      Renate wollte sich in Koblenz Wolle kaufen. Ich fuhr mit, und in der Kaufhalle mogelte ich hinter Renates Rücken ein Stück Seife in die Einkaufstasche. Rexona.

      Als Renate das Seifenstück gefunden hatte, sagte sie: »Das bringst du genau wieder dahin, wo du’s hergeholt hast!«

      Das war fast noch schwerer als das Klauen.

      Am Samstag mußten wir im Garten Unkraut rupfen: Quecke, Giersch und Melde, und zwar mit Wurzel. Papa überwachte das. Alle anderen Pflanzen mußten gepflegt und gegossen werden, wenn sie nicht eingehen sollten, nur das Unkraut wuchs von alleine.

      Mama erntete wieder kiloweise Bohnen. Als sie alle kleingeschnippelt, vorgebrüht und eingefroren hatte, ging die Tiefkühltruhe kaputt, natürlich am Wochenende, wo die Neckermänner nicht kommen konnten.

      Ganz am Schluß hatten wir dreizehn Goldmedaillen, die DDR zwanzig, Amerika dreiunddreißig und Rußland fünfzig. Wenn man die DDR mitzählte zu Deutschland, hatten wir genausoviel wie die Amis.

      Es gab aber zuviele doofe Sportarten wie Hammerwerfen, Kugelstoßen und Gewichtheben. Oder Ringen, wenn den Fettwänsten dann so der Po aus dem Trikot quoll.

      Ich schwatzte Renate das Bravoposter von Mark Spitz ab, auf dem er seine sieben Goldmedaillen um den Hals hängen hatte und eine Badehose mit Stars and Stripes an. In zehn oder zwölf Jahren würde ich vielleicht auch so dastehen, über und über mit olympischem Gold geschmückt. Martin Schlosser, wie er leibt und lebt.

      Wiebke konnte jetzt schreiben: Lisa, Uli, Ali, Susi, lila, Nina, Isa. Und Wiebke. Sie wollte auch Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt schreiben, aber dafür hatte sie noch nicht genug Buchstaben gelernt.

      Von der neuen Rheinbrücke war schon wieder ein Teilstück eingestürzt, und sechs Leute waren draufgegangen. Was da wohl für Knallköpfe im Ingenieurbüro saßen. Berechneten alles falsch, und ein paar arme Schlucker konnten es ausbaden. Er könne die Sesselfurzer förmlich vor sich sehen, sagte Papa. Von dieser Bagage gebe es auch im BWB ganze Rudel.

      Renate war nach Koblenz gefahren, um sich Karten für Insterburg & Co. zu kaufen, und ich ging in Renates Zimmer. Mal kucken, was es