Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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hatte nicht viel zu lachen, bis ich im Eichendorff auf dem Korridor vorm Musikzimmer ein Zweimarkstück fand.

      Am Kiosk beim Busbahnhof hatte ich die Qual der Wahl. Ich entschied mich für Nappos und Salinos und nahm einen Bus später, um Michael Gerlach nichts abgeben zu müssen.

      Am Busbahnhof war auch das Verkehrsamt. Was die da wohl zu arbeiten hatten. Verkehr war doch von ganz alleine.

      Die Rückfahrt verbrachte ich damit, mir die Lakritze aus dem Gebiß zu knibbeln.

      Weil er den Schweinefraß in der BWB-Kantine nicht mochte, fuhr Papa mittags immer nachhause, aber erst so spät, daß man nach Schulschluß noch Zeit hatte, in Koblenz rumzuspazieren.

      Vorm Kaufhof pries ein schnauzbärtiger Marktschreier einen Zick-Zick-Zyllis an oder Teflonpfannen.

      Auf dem Bürgersteig nicht auf die Ritzen treten und in den Eingängen von Kaufhäusern nicht einatmen, weil in den Warmluftschleiern Schnupfenbazillen zirkulierten.

      In der Spielzeugabteilung vom Kaufhof besah ich mir die Matchbox-Autos. Alle unerschwinglich, aber schnittiger als unsere alten Schrottkarren, und ich schob mir, ohne lange zu überlegen, das erstbeste Auto samt Verpackung unter den Parka, so wie seinerzeit Ingo Trinklein, klemmte es mit dem Arm fest und ging zitternd zur Rolltreppe.

      Keiner hielt mich auf. So leicht konnte man die Eierköpfe da überlisten! Mit dem Auspacken wartete ich aber noch, bis ich außer Sichtweite war.

      Eine weiße Luxuslimousine. Die Verpackung schmiß ich weg, und nach dem Mittagessen verzog ich mich in den Hobbyraum. Der Schlitten fuhr wie eine Eins und schnurgeradeaus, nicht wie die anderen Dinger, die Linksdrall oder Rechtsdrall hatten.

      Klein, aber mein.

      Damit Mama nichts merkte, wühlte ich das Auto in der Spielzeugkiste unter. Jetzt wollte ich auch die übrigen Spielzeugabteilungen abklappern.

      Fuchs, du hast die Gans gestohlen!

      Ich versorgte mich bei Quelle und in der Kaufhalle auf die bewährte Tour: Verpackung in die Hand nehmen, kucken, ob jemand kuckt, Auto unter den Parka schieben und ab. In der Kaufhalle ließ ich gleich drei Autos mitgehen, einen Oldtimer mit hohen Heckflossen, einen Sportwagen mit dunkelblauer Windschutzscheibe und einen goldenen Mercedes, bei dem man alle vier Türen, die Kofferraumklappe und die Motorhaube aufmachen konnte.

      Im Hobbyraum ließ ich die Autos auf der freigeräumten Strecke zwischen Wand und Teppich Rennen fahren. Erst die ganze Flotte dicht zusammenstellen, dreimal Schwung holen und dann loslassen.

      Ewiger Spitzenreiter war der Oldtimer, selbst wenn er die Startposition ganz links gehabt hatte, wo die Gefahr, mit einem der Heizkörperstege zu kollidieren, am größten war, aber da kam er fast immer dran vorbei. Es gab auch Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem orangen Sportwagen, aber der prallte vorne oft so heftig von der Wand ab, daß er dann weiter hinten liegenblieb als die anderen Autos.

      Mein Fuhrpark mußte noch vergrößert werden. Sicherheitshalber ging ich nirgends öfter als einmal klauen. Nur bei Woolworth war ich noch nicht gewesen. Da lagen die Spielzeugautos auf Grabbeltischen.

      Als ich unauffällig eins eingesteckt hatte, wollte ich gehen, aber da sah mich eine Verkäuferin so finster an, daß mein Herz einen Satz machte. Ich versuchte noch, freundlich zu lächeln, aber da packte mich schon jemand von hinten am Arm und sagte: »So geht’s ja nicht, junger Mann!«

      Dann wurde ich abgeführt, quer durchs Geschäft zu einer Tür, eine Treppe hoch, einen Flur lang und in ein Zimmer, wo zwei Frauen mich in die Mangel nahmen.

      Ich mußte so heulen, daß ich nicht viel mitbekam, nur die Wörter Ladendiebstahl, Anzeige, Polizei und Eltern, und davon mußte ich noch mehr heulen.

      Ich war erledigt. Verratzt und verloren, wie der Kloß im Lesebuch aus der Grundschule. Wenn rauskam, daß ich ein Kaufhausdieb war, hatte ich ausgeschissen, bis ans Ende aller Tage. Grün und blau gehauen würde ich werden und dann ins Heim gesteckt oder ins Zuchthaus. Herzlichen Glückwunsch.

      Die Frauen räumten meinen Ranzen aus und hielten mir meine Schulbücher vor die Nase. »Hast du die auch alle geklaut?«

      Wie ich hieß, stand auf meinen Schulheften. »Und wo wohnst du?«

      Kalli fiel mir ein, wie der dem Fischzüchter was vorgeflunkert hatte, und als ich nicht mehr ganz so laut schluchzen mußte, sagte ich: »In Neuwied.«

      Die Weiber wollten mir nicht glauben. »In Neuwied? Und da gehst du in Koblenz zur Schule? Sei ehrlich, wo wohnst du?«

      »In Neu-en-dorf!« rief ich, um so zu tun, als ob ich vorher nicht deutlich genug gesprochen hätte, und dann mußte ich wieder heulen.

      »Ach, in Neuendorf wohnt der Herr! Und in welcher Straße?«

      Straße war schlecht. Mir fiel ums Verrecken kein Straßenname ein, während ich gegen die Tränen kämpfte.

      »Na, das kriegen wir schon noch raus«, sagte eine von den Frauen. Dann telefonierte sie mit der Polizei, und die andere fing an, ein Formular auszufüllen. »Martin Schlosser, wohnhaft in Neuendorf, stimmt das denn jetzt auch? Oder hast du uns da was vorgepillert?«

      Ich konnte nicht mehr. Jetzt waren auch noch Polizisten im Anmarsch, um mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Ich ergab mich in mein Schicksal und legte ein volles Geständnis ab. Wohnort, Straße, Hausnummer, Vornamen der Eltern, Telefonnummer, Geburtstag, Geburtsort. Mit mir war’s aus.

      Zwei Polizisten holten mich bei Woolworth ab, und dann saß ich hinten im Peterwagen und machte mich klein, damit mich keiner sehen konnte.

      »Ans Türmen brauchst du nicht zu denken«, sagte der Bulle, der am Steuer saß. »Hier kommst du nicht raus, da haben wir vorgebaut.«

      Auf dem Polizeirevier wartete ich darauf, abgetastet und erkennungsdienstlich behandelt zu werden, aber ich saß nur auf einer Holzbank rum und bekam mit, wie einer von den Polypen bei uns anrief.

      »Frau Schlosser?«

      Jetzt war Mama dran.

      »Wir haben Ihren Sohn Martin hier bei uns, und ich fürchte, der hat eine kleine Dummheit gemacht …«

      Himmelangst war mir, als ich mit meinem Ranzen auf dem Schoß dasaß und auf Mama warten mußte. Gehörig zur Sau würde sie mich machen, und dann? Und ob ich jetzt vorbestraft war?

      Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.

      Jedesmal, wenn die Tür aufging, dachte ich, jetzt isses soweit, aber es kamen immer nur Polizisten rein.

      Der Wachtmeister oder was der war, der mit Mama telefoniert hatte, las Praline, eine Zeitschrift mit barbusigen Frauen vornedrauf.

      Büro-Ordnung. § 1 Der Chef hat immer recht. § 2 Sollte der Chef einmal unrecht haben, tritt automatisch § 1 in Kraft.

      Als Mama kam, war sie erst noch nett zu dem Wachtmeister, aber schon geladen wie eine Rakete. Draußen kriegte ich ein paar vorn Hals und eine Standpauke gehalten, die überhaupt nicht wieder aufhörte, auch die ganze lange Busfahrt über nicht, bei der wir stehen mußten, weil der Bus so voll war.

      Ob ich die Absicht hätte, noch weiter auf die schiefe Bahn zu geraten? Und als verkrachte Existenz zu enden? »Weiß der Himmel, was wir mit dir noch anstellen sollen!« Sie sei mit ihrem Latein am Ende. »All die Jahre lang haben wir auf niederstem Level rumgekrebst und uns beide Beine ausgerissen, um die Familie hochzubringen, und zum Dank dafür dürfen wir dich heute von der Polizei abholen! Als ob ich nicht genug zu tun hätte damit, den ganzen Riesenhaushalt zu versorgen! Nichts als Schande bringst du über die Familie!« Ob ich vorhätte, uns alle ins Unglück zu stürzen? »Wir haben unser Menschenmöglichstes getan!«

      Jetzt würden andere Saiten aufgezogen. Feierabend. Ende der Fahnenstange. Ich hätte den Bogen überspannt. »Bild dir ja nicht ein, daß wir diese Sache mit einem treuherzigen Augenaufschlag von dir für gegessen halten, und dann ist wieder Friede, Freude, Eierkuchen!« Jetzt werde gespurt. Eine Woche Zimmerarrest, sechs Wochen Hausarrest.