Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Simmern hoch. Jedesmal, wenn ich da durchkam, dachte ich, daß die Leute da einen an der Waffel haben mußten. Kein vernünftiger Mensch würde in ein Kuhkaff mit solchem Gefälle ziehen. Immer rauf und wieder runter, selbst wenn man nur mal eben hundert Gramm Bierwurst vom Kaufmann holen wollte, der in Simmern wahrscheinlich auch nur drei Stunden an drei Tagen in der Woche aufhatte, wenn überhaupt.

      Bei der zweiten Etappe kriegte Michael eine halbe Minute Vorsprung vor mir und eine ganze vor Holger, von dem man nur hoffen konnte, daß er ehrlich war und nicht früher losfuhr als erlaubt.

      Auf den letzten Kilometern vor Vallendar kam ich außer Puste. Michael konnte ich nicht mehr einholen, und als Holger freudestrahlend an mir vorbeizog, rief ich ihm zu, daß ich einen Wadenkrampf hätte und langsamer fahren müsse, was aber gelogen war.

      Klar, bergab war Holger mit seinen sechzig Kilo Speck im Vorteil. Kurz vor Vallendar überholte er sogar ein Auto.

      Abends im Bett schämte ich mich zu Tode wegen meiner Lüge mit dem Wadenkrampf. Ich war kein guter Verlierer.

      Am Sonntag machte Johnny Weissmüller als Tarzan aus Leoparden, Nilpferden und Menschenaffen Kleinholz, und Mama sagte: »Ich möcht ja nur mal wissen, wie der sich rasiert«, womit sie bewies, daß sie keinen Funken davon verstanden hatte, was bei Tarzanfilmen wichtig war und was nicht.

      Von der Elternsprechstunde im Hilda-Gymnasium kehrte Mama wutschnaubend zurück. Was sie auf die Palme gebracht hatte, war eine Bemerkung von Renates Deutschlehrerin, die darauf erpicht gewesen war, Mama zur Klassenpflegschaftsvorsitzenden zu ernennen, aber sie hatte abgelehnt, weil sie dazu nicht mobil genug sei ohne eigenes Auto. »Und da sagt die doch zu mir: Mein Gott, sind Sie unemanzipiert!«

      My Bonnie is over the ocean. In Musik erzählte Boris Kowalewski mir einen Witz über einen Typen, der seinen Pullermann als Lasso benutzt, und als ich lachte, machte der Bosch mich zur Schnecke. Bei dem anzuecken war kein Zuckerlecken. Er schickte mich vor die Tür, und da mußte ich bis zum Ende der Stunde stehenbleiben wie bestellt und nicht abgeholt.

      Scheiße in der Lampenschale gibt gedämpftes Licht im Saale.

      Immer war was. In der Pause blies mir ein Lehrer den Marsch, weil ich eine Flurtür mit dem Fuß aufgestoßen hatte: »Machst du das zuhause auch so, du Rüpel?« Und als ich in Englisch Frank Töpfer den Stuhl unterm Arsch weggezogen hatte, stauchte mich der Lauritzen zusammen. Daß man nach so einem Sturz zeitlebens mit Querschnittlähmung im Rollstuhl sitzen könne, ob ich daran mal gedacht hätte? Und ob ich das verantworten könne? Sowas einem Mitschüler anzutun?

      Oder im Bus. Ich hatte ja einen Schülerausweis, aber als ich einmal am Bahnhof eingestiegen war und am Zentralplatz wieder aussteigen wollte, zeterte der Busfahrer durchs Mikrofon: »Dat sinn hier keine Spazierfahrde, Jüngelsche!«

      Sollte der Stinkstiefel sich doch gehackt legen.

      In the Summertime von Mungo Jerry hätte ich gerne gekauft als Single, aber die war nirgends zu finden, weder bei Gewa noch sonstwo. Am beschissensten war die Auswahl bei Neckermann. Da wurde ich auch gleich wieder weggeekelt von einer Verkäuferin, die sagte, sie habe hier keine Verwendung für Vorgartenzwerge, die die Waren betatschten.

      Scheiße auf den Autoreifen gibt beim Bremsen braune Streifen.

      Auf den Platz, den ich für Michael Gerlach freigehalten hatte, pflanzte sich einmal im Bus eine fette Tante, obwohl noch massig andere Plätze frei waren, aber als ich der vorschlug, sich woanders hinzusetzen, schüttelte sie bloß den Kopf, und ich saß bis zum Mallendarer Berg eingequetscht da und wälzte Rachepläne. Der mal Juckpulver in den Kragen schütten oder eine Stinkbombe durchs Schlafzimmerfenster schmeißen.

      Rache ist Blutwurst, und Leberwurst ist Zeuge.

      Zur nächsten Sportstunde sollten wir Badesachen mitbringen, und mir schwante Böses, weil ich immer noch nicht schwimmen konnte, aber es war dann doch nur halb so wild. Im Hallenbad an der Mosel durften die Nichtschwimmer sich darauf beschränken, Zeiten zu stoppen.

      Einen Fünfmetersprungturm gab es da und Maukenduschen gegen Fußpilz.

      Auf dem Weg zurück zur Schule fiel mir siedendheiß ein, daß ich meine Armbanduhr im Umkleideraum liegengelassen hatte, aber mir fehlte der Mut, das zu sagen, alle damit aufzuhalten und mich auslachen zu lassen. Ich kam auch so schon nicht gut mit, weil mir ein Schnürsenkel gerissen war.

      In der Casinostraße lag ein dreieckiger FDP-Aufkleber. Den pappte ich an meine Zimmertür. Jetzt war ich FDP-Anhänger, der einzige in unserer Familie. Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Schwager vorn, vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn! Die FDP war gar nicht so verkehrt.

      Als Oma und Opa Jever für zwei Tage zu Besuch kamen, staunten sie den Aufkleber an, und Oma sagte, daß sich auch Gustav schon als kleiner Steppke mit Politik beschäftigt habe. Von ihr hätten wir das nicht!

      Über Renates Deutschlehrerin lachten Oma und Opa sich einen Ast. »Mein Gott, sind Sie unemanzipiert!« Nur weil Mama kein Auto hatte. »Was sollen denn wir zwei Alten da erst sagen!« rief Oma. »Wir haben ja alle beide kein Auto! Dann ist Vati wohl auch unemanzipiert?«

      Oma nannte Opa immer Vati.

      »Da hast du leider einen Bock geschossen, Martin«, sagte der Engelhardt, als wir unsere Arbeiten in Bio wiederkriegten. »Das ist ungenügend. Schlicht und ergreifend.«

      Ich dachte, der nimmt mich auf den Arm, aber er hatte mir wirklich und wahrhaftig eine Sechs gegeben. Die erste meines Lebens. Fast alles, was ich geschrieben hatte, war rot angestrichen.

      Wie sollte ich das Mama beibiegen? Die würde Zustände kriegen.

      Selbst in der Pause mußte ich noch heulen. Ich stand hinter der Klotür und kriegte Platanenbommel und Kastanien zugekickt von Erhard Schmitz und Boris Kowalewski, die auch beide Sechsen geschrieben hatten. Denen waren ihre Noten vollkommen schnurz.

      Eine Lehrerin, die ich nicht kannte, kam zu mir, um mich zu trösten, und der schüttete ich mein Herz aus.

      »Und jetzt fürchtest du dich davor, was deine Eltern sagen werden?«

      Sagen ist gut.

      »Was werden die dir denn tun?«

      Mich verprügeln natürlich.

      »Na, na, na, so schlimm wird’s schon nicht werden«, sagte die Lehrerin, aber da war ich mir nicht so sicher.

      Ich mußte Mamas Unterschrift fälschen. Dann brauchte ich das mit der Sechs niemandem auf die Nase zu binden. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

      Wir saßen beim Nachtisch, als das Telefon klingelte. Mama ging ran, und als sie wiederkam, sagte sie, das sei eine Frau Rademacher gewesen, Lehrerin am Eichendorff, und die habe ihr nahegelegt, nicht zu hart mit mir ins Gericht zu gehen wegen der Sechs in Biologie.

      Mir blieb der Pudding im Halse stecken. Hätte ich der alten Kuh doch bloß nichts gesagt! Was mischte die sich denn hier ein? Und woher hatte die unsere Telefonnummer?

      »Nun sitz nicht da wie so ’n Ölgötze!« sagte Mama. »Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!« Weshalb ich denn die Sechs mit keiner Silbe erwähnt hätte bis jetzt?

      Ich sagte, ich hätte noch bis nach dem Essen warten wollen.

      Weil Oma und Opa da waren und ich nicht gut vor deren Augen vertrimmt werden konnte, kam ich glimpflich davon. Papa hüllte sich in Schweigen, und Opa, der früher selbst Lehrer gewesen war, sagte, bei einem guten Schüler sei eine Sechs kein Grund zur Aufregung. Sowas komme in den besten Familien vor. Das sei Künstlerpech.

      Knutschen können hätte ich Opa dafür. Aber als rauskam, daß ich meine Armbanduhr verbaselt hatte, war auch Opa böse auf mich, und von Papa kriegte ich vor versammelter Mannschaft eine gepflastert.

      »Und jetzt geh die Uhr suchen!« rief Mama.

      »Hab ich schon.«

      »Dann such nochmal!«

      Mantel, Fuß