Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Sind Tannennadeln trocken, falln sie vom Baum herab. O Mädchen, laßt euch locken, auch eure Zeit ist knapp!

      Ingo Insterburg sang noch ein Lied über die Kaulquappen im Ententeich, die ihre Kiemen abgeben: Und dann verlieren sie ihr Schwänzelein, ich möchte nie eine Kaulquappe sein!

      Wie Renate dabei ungerührt Mützen häkeln konnte, ging mir über den Verstand.

      Frau Niedergesäß wollte einen weihnachtlichen Geschenkebasar veranstalten. Jeder sollte ein Geschenk mitbringen, die Geschenke sollten Nummern kriegen, und dann würde jeder auf gut Glück eine Nummer ziehen und ein Geschenk bekommen.

      Mama gab mir für den Basar eine Packung Lebkuchenherzen mit. Mir kam das recht dürftig vor, aber Mama sagte, sie sei nicht Graf Koks. »Wenn deine Lehrerin darüber quakt, kannst du der von mir bestellen, daß Vater Staat das Kindergeld erhöhen soll, bevor ich mich für deine lieben Mitschüler in Unkosten stürze.«

      Kindergeld, das hörte sich so an, als ob das eigentlich meins gewesen wäre.

      Das Losglück bescherte mir einen Kompaß. Der konnte mir im Wambachtal von Nutzen sein, wenn Michael Gerlach und ich uns da mal verirren sollten.

      Meine Lebkuchenherzen waren bei Jesu Christi gelandet. »Der Sausack, von dem die stammen, soll mir mal im Mondschein begegnen«, sagte er zu Erhard Schmitz, und der pflichtete ihm bei. Klassenkeile sei das mindeste, wenn sie den Pfennigfuchser beim Schlafittchen kriegten.

      Für mich war ein Brief eingetroffen, von Eberhard Gienger, mit einer Autogrammkarte: Gienger am Barren. Hintendrauf stand: Und herzlichen Dank für das reizende Gedicht!

      Ich war geplättet.

      Renate reiste über Weihnachten nach England zu Tante Therese. Erst mit dem Zug, dann mit der Fähre, dann wieder mit dem Zug.

      Mir war Weihnachten in Deutschland lieber. In England gab es Weihnachten bloß Grußkarten, die auf den Kaminsims gestellt wurden. Schluß, fertig, aus. Das hatte Tante Therese mal erzählt. Tolles Weihnachtsfest: Grußkarten aufreihen. Ich freute mich das ganze Jahr über auf Weihnachten und die letzten Tage davor so doll, daß ich’s fast nicht mehr aushielt. Die Engländer wußten gar nicht, was ihnen da entging.

      Beim Winken wehte Renates langer weißer Schal im Fahrtwind.

      Es war erst der 22. Dezember, aber vor ihrer Abreise hatte Renate auch die letzten beiden Adventskalendertürchen schon aufgemacht und die Schokolade verspachtelt.

      Manche von den Bildern in Renates Kalender kamen mir bekannt vor, und ich hielt meinen eigenen daneben, zum Vergleich. Die Türchen waren verschieden numeriert, aber innen waren an der gleichen Stelle genau die gleichen Bilder. Den Ball, der bei mir am Vierten war, hatte Renate am Zwölften, am Dritten hatte sie das Reh, das bei mir erst am Zwanzigsten kam, und so weiter. Bei den Adventskalendern von Wiebke und Volker war das auch nicht anders. Überall die gleichen Bilder, obwohl vorne auf den Kalendern, bei geschlossenen Türchen, vier unterschiedliche Weihnachtsmänner zu sehen waren.

      Mama saß am Eßtisch, knotete die Enden von zerrissenen Gummibändern zusammen und sagte, ich sei ein Einfaltspinsel. »Was soll ich denn jetzt bitteschön tun? Den Herstellern einen Brief schreiben? Sehr geehrte Herren, nach Rücksprache mit meinem Sohn Martin möchte ich Sie fragen, ob Sie die Güte hätten, nächstes Jahr eine Million Adventskalender zu produzieren, bei denen kein Bild wie das andere ist?«

      An Heiligabend fuhren wir mit dem Peugeot nach Vallendar zum Gottesdienst. Weil Renate nicht da war, konnte ich am Fenster sitzen, aber ich mußte versprechen, auf der Nachhausefahrt mit Wiebke zu tauschen.

      Macht hoch die Tür, das Tor macht weit.

      Bei der Bescherung konnte man wieder mal sehen, daß Mädchen schlechter dran waren als Jungs. Ich kriegte zwei Detektivbücher, ein Märchenbuch, eine Olympiamünze im Wert von zehn Mark und ein neues Brettspiel: Schmugglerjagd. Volker kriegte einen Elektronikbaukasten mit Bausätzen für Morsegeräte und Alarmanlagen, und zusammen kriegten wir einen Tischkicker.

      Und Wiebke? Söckchen, karierte Pantoffeln und aus Jever eine Strumpfhose, drei Nummern zu klein.

      Für Mama hatte Papa einen Leifheit-Staubsauger besorgt, der ohne Strom funktionierte. Beim Schieben drehten sich die Bürsten von alleine. Wir probierten das mit Tannennadeln, Asche und Locherkonfetti aus. Die Hälfte blieb jedesmal liegen, und Papa ging mit dem Staubsauger in die Garage runter.

      Das Märchenbuch war von Onkel Dietrich: Ungarische Märchen.

      Schluck. Ob der was von Piroschka wußte?

      Ein Paar Strümpfe lag noch rum, zusammengenäht.

      »Nicht reißen!« rief Mama. »Sonst sind die doch im Nullkommanichts wieder kaputt!«

      Dann rief sie in England an.

      Als Festmahl für den ersten Weihnachtsfeiertag hatte Mama ein Kaninchen gebraten, aber das war ein zäher Brocken, trocken und kaum runterzubekommen. »Das hab ich ja nun auch nicht geahnt«, sagte Mama.

      In Ermangelung von Zahnstochern schabte Papa sich die Fleischfasern mit einem angespitzten Streichholz aus den Zahnzwischenräumen, und als Oma Jever anrief und wissen wollte, was wir gegessen hätten, sagte er ihr, wir hätten einen etwas ältlichen Karnickelbock seiner gottgewollten Bestimmung zugeführt, aber es sei nur sehr bedingt statthaft, von einer kulinarischen Offenbarung zu sprechen.

      Bei Schmugglerjagd traten Zöllner gegen Schmuggler an. Als Schmuggler mußte man kleine schwarze Scheiben in die hohlen Figuren stopfen und versuchen, sie an den Zöllnern vorbei auf die Ziellinie zu manövrieren. Wenn die Zöllner eine Figur kontrollierten, die nichts schmuggelte, hatte man als Schmuggler gut lachen, aber man mußte auch darauf achten, daß die Schmuggelware nicht rausrutschte beim Ziehen.

      Und durfte man nun diagonal oder nicht? Die Regeln standen innen im Deckel, aber wo war der jetzt wieder abgeblieben?

      Wiebke schob die Figuren, in denen sie was schmuggelte, so langsam übers Brett, daß man gleich Bescheid wußte.

      Ziemlicher Quark waren die ungarischen Märchen. Da metzelten ununterbrochen todesmutige Ritter Drachen ab, um zartbesaitete Königstöchter zu befreien, und wenn der Kampf vorbei war, stand da: Wer’s glaubt wird selig, wer’s nicht glaubt, wird mehlig.

      Pffft.

      Dafür waren die anderen Bücher klasse, Rätsel um die verbotene Höhle und Meisterdetektiv Blomquist, auch wenn mir mulmig zumute war, als ich las, wie Kalle Blomquist die Polizei auf die Spur von Onkel Einar brachte, dem Juwelendieb. Mir hätte die Polizei noch weniger geglaubt als Kalle Blomquist, weil ich kein unbeschriebenes Blatt mehr war.

      Rätsel um die verbotene Höhle stammte von Enid Blyton. Da spionierten gleich vier Kinder hinter Verbrechern her, eins mit einem dressierten Äffchen und eins mit einem Hund, einem Spaniel namens Lümmel, der wie ein wildgewordener Handfeger durch die Landschaft peeste. Unsereiner hatte nicht einmal ein Meerschweinchen. Geschweige denn das Glück, in einem Land zu wohnen, das von Verbrechern nur so wimmelte. Nach Juwelendieben graste ich den Mallendarer Berg vergebens ab.

      Hinten standen die Titel von den restlichen Rätselbüchern drin. Rätsel um das verlassene Haus, um die grüne Hand, um den unterirdischen Gang, um den geheimen Hafen, um den wandelnden Schneemann und um den tiefen Keller.

      Im Zweiten wurde Lederstrumpf wiederholt. Mitten im dritten Teil, klingeling, stand Stephan Mittendorf vor unserer Haustür. Ob ich schon die Neuigkeiten gehört hätte. Piroschka ziehe weg. In der Rudolf-Harbig-Straße stehe ein Möbelwagen, der werde gerade beladen.

      Soso.

      »Ist doch ganz gut«, sagte Stephan Mittendorf, »dann haben wir endlich unseren alten Streit nicht mehr.«

      Als ob ich mich mit dem um Piroschka gestritten hätte.

      »Du hast den Tod von Häuptling Pfeilspitze verpaßt«, sagte Volker, als ich wiederkam. Er lag auf dem Bauch, mit dem Kinn im Kissen.

      Vom