Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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aber auch nichts gegen einen Fantabrunnen gehabt. Tante Gertrud nahm nur einen kleinen Schluck, um nicht zu müssen, bevor wir zurück waren.

      Mittags kamen wir auf einem Bergkamm an, und es war heiß, aber Onkel Edgar wollte nicht Rast machen. Wer raste, der roste, und die Äpfel könnten wir auch im Gehen essen. Das Knäckebrot war schon alle.

      Meinen Apfel sollte ich abnagen bis zum Kerngehäuse. Die Kriegsgefangenen hätten sich auf so einen Apfelgriebsch gestürzt wie auf eine Delikatesse, sagte Onkel Edgar.

      Griebsch? Bei uns hieß das Grütz.

      Wann wir wieder an einem Brunnen vorbeikämen, wollte ich wissen, und Tante Gertrud sagte, es sei nicht mehr weit bis nachhause, aber dann waren es doch noch drei oder vier Kilometer.

      Auf dem letzten Stück Weg fand ich eine Colaflasche, in der noch was drin war. Die lehnte an einem Baum, und ich wollte sie aussaufen, aber Tante Gertrud verbot mir das. Da könne einer reingepinkelt haben. Schlechte Menschen brächten sowas fertig.

      An meinem Geburtstag fuhren wir in die Innenstadt, und ich durfte mir eine Single aussuchen. »Ruhig auch was Klassisches«, sagte Tante Gertrud, aber ich wollte nichts Klassisches. Ich suchte mir Block Buster aus von Sweet und kriegte auch noch das Buch Rätsel um die grüne Hand und ein kackbraunes Hemd mit weißen Punkten.

      Ein einziges Mal durfte ich Block Buster im Wohnzimmer hören, dann war Schluß mit lustig. »Verglichen damit klingt meine Schleifmaschine wie ein Kammerorchester«, sagte Onkel Edgar.

      Als er mit Tante Gertrud zum Kirchenchor gefahren war und Horst meditierte, legte ich dann doch wieder Block Buster auf. Aus einem Regalfach suchte Bodo zwei Mikrofone raus, und wir tanzten trällernd damit durchs Wohnzimmer, bis das Deckenlicht anging und Tante Gertrud dastand und schimpfte. Ihr Vertrauen auszunutzen und Schindluder zu treiben mit der Stereoanlage, das hätte sie nicht von uns gedacht!

      Wir verschwanden eiligst von der Bildfläche.

      Im Zug nach Koblenz las ich Rätsel um die grüne Hand. Da dachte sich Stubs im Zug eine Lügengeschichte aus, daß er einer Atombombenverschwörung zum Opfer gefallen sei und von einer internationalen Bande verfolgt werde, der grünen Hand. Der alte Mann, dem er das erzählte, glaubte ihm jedes Wort und war erschüttert, aber dann steckte Stubs in der Klemme, weil sich rausstellte, daß der alte Mann sein Großonkel Johann war, und noch mehr, als ein mysteriöser grüner Handschuh auftauchte.

      Mir passierte sowas nie. Wenn ich mal in der Klemme steckte, dann wegen schlechter Noten und nie wegen einer Atombombenverschwörung.

      Von meinen nachgereichten Geburtstagsgeschenken waren die besten eine blaue Zottelweste von Renate und von Tante Dagmar die Single Diplomatenjagd von Reinhard Mey: Selbst den klapprigen Ahnherrn von Kieselknirsch trägt man mit der Trage mit auf die Pirsch.

      Auf der Fensterbank stand noch der Osterstrauch mit gelben Stoffküken und lackierten Holzeiern.

      Papa war nach Meppen versetzt worden, hatte sich da zwei Zimmer mit Bad gemietet und kam nur noch am Wochenende nachhause. »Und dafür haben wir hier nun gebaut«, sagte Mama. Das sei doch hirnrissig.

      In meinem eigenen Robinson-Crusoe-Buch stand vorne das gleiche wie in dem von Bodo: Für die Jugend bearbeitet. Dann wußte also keiner von uns, wie die Geschichte wirklich ausgegangen war. Wozu mußten Abenteuerbücher überhaupt für die Jugend bearbeitet werden? Konnte man die nicht lassen, wie sie waren?

      Ich übte viel Klavier, auch ohne Klavier, in der Schule, auf der Ablagefläche unter der Tischplatte, bis die Niedergesäß mir das verbot. Unterarsch hieß die bei uns.

      Im Gewa kaufte ich mir ein Notenheft für eigene Kompositionen. Sonatinen von Schlosser. Das machte sich gut auf dem Umschlag.

      In Mamas Konzertführer standen Notenbeispiele wie Sand am Meer, und ich dachte daran, die abzuschreiben, hintereinander weg, und dann so zu tun, als ob die Musik auf meinem eigenen Mist gewachsen sei. Nicht einmal ein Musikprofessor hätte gemerkt, daß das alles aus dem Konzertführer stammte, aber dann war ich doch zu faul, eine Million Halbnoten und Viertelnoten und Pausenzeichen zu übertragen und den ganzen anderen Kram. Andante molto mosso, Adagio assai und Allegretto scherzando.

      Renate hatte wieder ein Elaborat von Alec erhalten. Darin kündigte er mit großem Tamtam seinen Deutschlandbesuch an und wollte wissen, ob er zweimal bei uns übernachten dürfe.

      Zu Renates Entsetzen war Mama einverstanden. Den Einwand, daß Alec balla-balla sei und aussehe wie Klein-Doofi mit Plüschohren, ließ sie nicht gelten. »Stell dich nicht so an«, sagte sie zu Renate, und dann mußte Wiebke für Alec ihr Zimmer räumen und kam in meins.

      Auf Mamas Geheiß mußte Renate Alec alle Sehenswürdigkeiten zeigen. Deutsches Eck, Kastorkirche, Schängelbrunnen und die Festung Ehrenbreitstein.

      Abends wurde im Wohnzimmer Konversation gemacht. Eine Schönheit war Alec nicht, mit seinen gelben Hauern und den Hängeschultern, und er stellte seine Schuhspitzen immer nach außen. Die reinste Vogelscheuche.

      Volker und ich sollten auch mal was sagen, um unser Englisch aufzupolieren.

      »I am learning English at … was heißt Eichendorff-Gymnasium?«

      »At school«, sagte Mama.

      »At school«, sagte ich.

      »Oh, do you?« fragte Alec und schielte zu Renate rüber, spitz wie Nachbars Lumpi. »Since when?«

      »Since … was heißt seit letztem Jahr?«

      »Since last year«, sagte Mama.

      »Since last year«, sagte ich.

      »Oh, good«, sagte Alec, und dann steckten wir wieder fest.

      Für Sonntag hatte Renate sich ihren alten Freund Jochen ins Schwimmbad bestellt, um Alec eine Lektion zu erteilen. Das wollte ich sehen.

      Jochen ließ sich wie aus Zufall ganz in unserer Nähe auf der Wiese nieder und winkte. Renate ging zu ihm hin, und dann fingen die beiden hemmungslos an zu knutschen und sich abzuschlecken; erst im Sitzen, dann im Liegen. Jochen hatte einen Sauerkohl wie Peter Ehlebracht von Insterburg & Co. und mordsmäßig breite Schultern.

      Alec machte Stielaugen. Abends ging er früh schlafen, und als Mama ihn wecken wollte, war er spurlos verschwunden.

      Papa hatte zehn Tage lang dienstlich in Ottobrunn zu tun, und in dieser Zeit stellte Mama einen Handwerker für die restlichen Terrassenarbeiten an. »Sonst wird das ja niemals was!« Wenn Papa deswegen Theater mache, nehme sie das auf ihre Kappe. »Der wird mir schon nicht den Kopf abreißen, der wird selbst ganz froh sein, wenn das fertig ist.«

      Dann setzte sie Gladiolenzwiebeln, bis die Sonne unterging.

      Seit einer Party bei Mareike hatte Renate einen Fimmel für Olaf, einen Juso, der am Eichendorff die Oberprima besuchte und in der Schubertstraße wohnte. Der holte Renate jetzt immer zum Spazierengehen ab. Blonde Haare, blaue Augen, rank und schlank und SPD. In der großen Pause ging er meistens einen heben im Posthorn in der Casinostraße. Er rief oft an, und Papa moserte über Renate und ihren süßholzraspelnden Filz, wenn sie das Telefon zu lange blockierte.

      Olaf hatte keinen Schulranzen, sondern nur ein Buch und ein paar Hefte in der Hand, wenn er morgens an der Haltestelle stand. Das hätte mir auch gefallen. Oder die Schulsachen zum Bündel geschnürt an einer Strippe über der Schulter zu tragen wie Tom Sawyer, aber als ich einmal so losziehen wollte, kriegte Mama mich am Kanthaken zu fassen. Ob ich übergeschnappt sei.

      Im Hobbyraum spielten Renate und Olaf vierhändig Klavier. Nicht so brillant wie Marek und Vacek, aber ganz gut, und dann gingen sie zum Kaffeetrinken in Renates Zimmer.

      Nach einer halben Stunde schickte Mama mich zum Spionieren hoch, nach der alten Masche: »Frag mal, ob die noch Büchsenmilch brauchen.«

      Platten hörten sie. El Condor Pasa.

      Renates neuer Eumel war auch Redakteur bei einer Schülerzeitung,