Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Gertrud und Onkel Edgar. In Bielefeld-Sennestadt, um genau zu sein.

      Die Hinfahrt unternahm ich ganz alleine mit dem Zug. Koblenz, Bonn, Köln, Wuppertal, Bochum, Dortmund, Unna, Hamm, Gütersloh, Bielefeld, eine halbe Weltreise.

      Den Kartoffelsalat kippte ich aus dem Fenster.

      Nicht hinauslehnen. Do not lean out. E pericoloso sporgersi.

      Tante Gertrud und Onkel Edgar wohnten in einem Bungalow im Grünen, aber Onkel Edgar wollte noch ein Dachgeschoß draufbauen. Vor lauter Eimern, Leitern, Balken, Ziegeln und Plastikplanen sah man fast den Garten nicht mehr. Die Garage war bis vornehin voll mit Brettern, und an den Hausecken standen randvolle Regentonnen.

      Schlafen sollte ich auf einer Klappcouch in Bodos Zimmer. Die Tür war mit Aufklebern bepflastert: Rauchen macht schlank, Seid nett aufeinander, Bitte keine heiße Asche einfüllen. CDU, SPD, WDR.

      Bodos Bruder Horst saß oft in seinem Zimmer und meditierte. Dann hing ein Warnschild an der Tür: Meditation! Betreten verboten!

      Das Abendbrot mußte sich jeder selbst schmieren, am Tisch, auf Tellern statt auf Brettchen, und Tante Gertrud goß Bodo und mir Ovomaltine ein.

      Auf die Frage, wie das Essen schmecke, hatte irgendeine Frau mal gesagt: »Man stopft’s so rein.« Tante Gertrud und Onkel Edgar hatten das gehört, und jetzt sagten sie es selbst immer: »Man stopft’s so rein.«

      Als ich vom Butterklotz mit dem Messer was für mich abgesäbelt hatte, sagte Bodo: »Da ist wohl ein Schaufelbagger am Werk gewesen.« Tante Gertrud brachte mir bei, daß man Butter streiche und nicht schneide.

      Bodo und ich durften uns ein Loch im Garten buddeln. Der war ohnehin verwüstet.

      Tiefer und tiefer, mit Schippen und Schaufeln, auch im Nieselregen. Eine Goldader entdecken und steinreich wieder ins Haus kommen: »Kuck mal, Tante Gertrud, was ich dir mitgebracht hab!« Die rechnet dann mit gar nichts, und man packt einen Goldklumpen aus, wie Hans im Glück.

      Oder auf Öl stoßen, und die Fontäne schießt tausend Meter hoch in den Himmel.

      Am Karfreitag sollte ein Film über einen Jungen kommen, der von allen anderen gehänselt wird. Das stand in der Zeitung, und ich wollte mir den Film ankucken, aber Tante Gertrud erlaubte mir das nicht. »Was hast du denn davon, wenn du dir sowas Trauriges ansiehst? Kannst du mir das bitte mal sagen?«

      Es regnete sich ein über Ostern. Bielefeld sei eben ein Regenloch, sagte Tante Gertrud. Sie wischte den Boden in der Küche, die nur ein winziges Kippfensterchen hatte, eine bessere Schießscharte.

      Onkel Edgar war unterm Dach am Wirtschaften. Da regnete es durch, denn die Dachdecker hatten geschlampt. »Ein zweites Mal lasse ich diese Brüder nicht über meine Schwelle«, sagte er. Do it yourself, das sei das einzig Wahre. »Ich bin doch nicht mit dem Klammerbeutel gepudert. Im Gegentum!« Selbst sei der Mann, mit Geduld und Spucke.

      Im Keller stand eine Tischtennisplatte, leider unbrauchbar, weil der Keller genauso vollgepremmst war wie die Garage. Rohre, Stangen, Balken, Schläuche, Dachpfannen, Originalverpackungen von Küchengeräten und Gartenwerkzeugen, ausgehängte Türen, alte Autoteile und mittendurch eine Schneise, in der man sich ducken und verrenken mußte, um weiterzukommen. Über Türme aus Backsteinen steigen oder quer gehen und den Bauch einziehen, wenn in einem Stapel was überstand.

      Bodo und ich spielten Mikado, auf dem harten Sisalteppich in Bodos Zimmer. Oder wir trugen im Flur eine Rallye aus, auf zwei Schreibtischstühlen mit Rollen, bis Tante Gertrud uns das verbot, weil die Fußbodenleisten Schrammen abbekommen hatten.

      Horst saß oft am Klavier. Er konnte Nocturnes von Chopin, auch mit zugehaltenen Augen. Stücke mit Kreuzen und b’s ohne Ende, in H-Dur, Des-Dur, Fis-Dur und cis-moll. Oder Kinderszenen von Robert Schumann: Von fremden Ländern, Bittendes Kind und Träumerei. Das tollste war, daß Horst sich beim Klavierspielen auch ausdenken konnte, was er spielte, und dazu noch aus dem Stegreif Texte singen, die sich reimten: »Liebes Blümelein im Garten, nach der Winterszeit, der harten, mußt du nicht mehr länger warten, denn gleich komm ich mit dem Spaten, und du kriegst eins draufgebraten!«

      Einmal kuckte ich durchs Schlüsselloch, als Horst in seinem Zimmer meditierte. Da saß er, unter seiner Decke. Schon seit Stunden. Ich machte leise die Tür auf, ging zu ihm hin und stupste seinen Kopf an.

      Nichts. Der befand sich in einer anderen Welt.

      Am Abend nahm er mich ins Gebet: Er hätte sterben können, als ich ihn angestupst hatte! Beim Meditieren weile seine Seele außerhalb des Körpers. Das Betreten-verboten-Schild hänge da nicht umsonst!

      Mit den Büchern in der Wohnzimmerschrankwand war nicht viel anzufangen. Götter, Gräber und Gelehrte, Biblisches Lesebuch oder Julius Schniewind: Die Freude der Buße. Viel Vergnügen.

      Das Bücherregal in Bodos Zimmer hatte Schlagseite. Was ist was: Unsere Erde, Reptilien und Amphibien, Entdecker und ihre Reisen.

      Und die Asterixhefte. Wie Obelix die Römer vermöbelt. Oder wie er sich in Falballa verknallt und nicht mehr sprechen kann: Wkrstksft! Und die Piraten, die von Asterix und Obelix jedesmal eins auf die Mütze kriegen. Die Galee’e kommt di’ekt auf uns zu! Methusalix, Stupidix und Schweineschmalzix. Fix und Foxi konnte man vergessen dagegen.

      Einmal ließ der Regen nach, und wir übten mit Bodos Bogen im Garten Pfeilschießen auf eine Zielscheibe, die an einer der Birken hing, aber dann gab’s Essen, Buttermilchauflauf mit Rosinen, und als wir damit fertig waren, hatte der Regen wieder angefangen.

      Vorm Einschlafen erzählte Bodo mir von der Tarzanschlinge im Wald, einer Liane, neben der er einmal ein Mädchen aus seiner Klasse geküßt hatte oder jedenfalls fast.

      Dann zankten wir uns darum, wie Robinson Crusoe ausgeht. Ich wußte genau, daß Robinson überlebt und gerettet wird von der Insel, aber Bodo behauptete steif und fest, Robinson werde von einem Pfeil getroffen und gehe drauf.

      Am Morgen zeigte Bodo mir die Stelle in seinem Buch, und da stand schwarz auf weiß, wie Robinson ums Leben kommt. Es war auch eine Zeichnung drin, wie er den tödlichen Pfeil in die Brust kriegt. In meinem Buch ging die Geschichte anders aus. Auch in dem Film, den ich gesehen hatte. Was für ein Beschiß.

      Für die Jugend bearbeitet, stand vorne in Bodos Buch.

      Streit gab es auch um das Perpetuum mobile in Jim Knopf und die Wilde 13. Das funktioniere nicht, sagte Tante Gertrud.

      »Und warum nicht?«

      »Das funktioniert eben nicht.«

      »Aber warum denn nicht?«

      »Weil es ein Perpetuum mobile nicht geben kann, darum nicht!«

      Tolle Antwort.

      Erst Horst machte sich die Mühe, mir den Denkfehler zu erklären: Wenn die vorne hängenden Magneten die Lokomotive anzogen, zog die Lok auch die Magneten an, statt sich zu bewegen. Das verstand ich, aber jetzt ärgerte ich mich über Michael Ende. Hätte der sich das nicht denken können?

      Als einmal die Sonne schien, stromerten Bodo und ich durch den Wald. Da gab es eine Schlucht, die viel tiefer war als die im Wambachtal. Eigentlich war auch die Schlucht auf der Horchheimer Höhe nur Mickerkram.

      Unten war eine Pfütze, so groß wie ein halber See. Wir versuchten, ein Floß zu bauen, wobei wir uns nasse Füße holten. Kwuutsch, kwuutsch, machte das Wasser in den Schuhen beim Gehen.

      An einem warmen Tag unternahmen Onkel Edgar, Tante Gertrud, Bodo und ich eine Wanderung. Horst meditierte wieder.

      Im Teutoburger Wald waren scharenweise andere Wanderer unterwegs, mit Kind und Kegel und mit Hunden, die den Schwanz so hielten, daß man ihnen genau ins Arschloch kucken mußte.

      Auf Schusters Rappen. Onkel Edgar trug den Rucksack mit Knäckebroten und vier Äpfeln, für jeden einen. Unseren Durst könnten wir an Brunnen stillen, hatte Tante Gertrud gesagt, aber bis wir den ersten Brunnen gefunden hatten, waren zwei Stunden um.