Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


Скачать книгу

durfte ich wieder fernsehen. In Asbach Uralt ist der Geist des Weines. Das berühmte Nestlé-Filter-Frio-Verfahren, Moulinex, Schneekoppe und das Gard Haarstudio. Die gibt der Zahnarzt seiner Familie. Lavendel, Oleander, Jasmin, Vernel!

      Fakt im Härtetest. Da wurde Schmutzwasser aus dem Hamburger Hafen in eine durchsichtige Waschmaschine gegossen. Eine harte Probe für die Vollwaschkraft von Fakt, aber nach dem Waschen war alles sauber. Fort mit dem Grauschleier. Weißes wird wieder weiß. Buntes wird wieder bunt.

      Milch ist gegen Maroditis.

      Neu war nach den Herbstferien, daß wir einmal in der Woche Religion bei Frau Niedergesäß in der nullten Stunde hatten.

      Nullte Stunde, sagte Mama, das sei doch geisteskrank. Was die wohl als nächstes aushecken würden. Unterricht um Mitternacht oder was.

      Ich mußte irrsinnig früh zur Haltestelle. Alle Sterne standen noch am Himmel, und es lag dicker Schnee auf dem Bürgersteig. Dafür war der Bus fast leer, am Rhein war noch kein Stau, und im Radio sang Wencke Myrhe einen Schlager über tausend rosarote Pfeile.

      Das Eichendorff roch nach Bohnerwachs und war stockdunkel.

      Am Friedrich-Ebert-Ring sprang die zweite Fußgängerampel immer genau dann auf Rot, wenn ich angerannt kam, aber ich flitzte trotzdem noch rüber. Einmal war ich spät dran. Die Autos starteten, als ich noch mitten auf der Straße war, und ein von hinten heranjagender Motorradfahrer streifte mich und riß mich fast um.

      Da konnte ich noch von Glück reden. Um Haaresbreite wäre ich über den Jordan gegangen. Mir schlug das Herz bis zum Hals.

      Ich hatte Schwein gehabt, unglaublichen Dusel. Dem Tod von der Schippe gesprungen war ich. Einen halben Schritt weiter vor, und Mama hätte mich im Leichenschauhaus besuchen können.

      Im Eichendorff setzte ich mich auf einen der Sessel im ersten Stock, wo sonst nie jemand saß, und betete. Ein feste Burg ist unser Gott.

      Nie wieder wollte ich bei Rot über die Straße laufen. Gut werden wollte ich, aus Dankbarkeit, in jeder Hinsicht. Mich an alle Verkehrsregeln halten, nie mehr abschreiben, nie mehr schwätzen, nicht mal mehr auf dem Füller kauen, der hinten schon eingedellt war davon.

      Nach dem ersten Wintereinbruch taute der Schnee, und der Rhein hatte Hochwasser, aber die Straße nach Koblenz war noch befahrbar, sonst hätte ich schulfrei gehabt.

      In Vallendar und anderswo liefen die Keller voll. Davon war ein Foto in der Zeitung. »Wer so dicht am Rhein wohnt, muß doch lebensmüde sein«, sagte Mama, und Volker sagte: »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber ersaufen als verbrennen.«

      Ersaufen war aber auch nicht angenehm. Nach Luft schnappen wollen und bloß Wasser einsaugen. Wie in dem Film vom Untergang der Titanic, wo die Leute in den überfüllten Rettungsbooten mit dem Ruder auf die Ersaufenden eingedroschen hatten.

      Frauen und Kinder zuerst.

      Oder auf einer einsamen Insel landen wie Robinson Crusoe und da dann mit Kannibalen kämpfen. Als das im Fernsehen kam und Robinson den Fußabdruck entdeckte, sagte Renate, das sei Kokolores, eine einsame Fußspur im Sand und keine andere dahinter und davor. »Da muß einer schon hundert Meter lange Beine haben, um so ’n Abdruck zu hinterlassen.«

      Über die Sache mit dem Ladendiebstahl war allmählich Gras gewachsen. Ich durfte noch nicht wieder raus, aber ich konnte mich im Wohnzimmer aalen, von Renate gebackene Zimtsterne verkasematuckeln und Drehscheibe kucken, mit Heino: Ja, ja, so blau, blau, blau blüht der Enzian.

      Dann kam ein Brief von der Polizei. Ich sollte nochmal vernommen werden, in Bendorf, in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Hatte der Scheiß denn nie ein Ende?

      Um da hinzukommen, mußten Mama und ich erst zu Fuß nach Vallendar und dann mit dem Bus fahren. Das werde sie mir nicht so bald vergessen, sagte Mama, daß ich sie in diese hochnotpeinliche Situation gebracht hätte. Mit dem Herrn Sohnemann zum Polizeiverhör zu müssen. »Schäm dich, daß du das deiner alten Mutter angetan hast!«

      In Bendorf hielt Mama mich fest an der Hand, und ich schaffte es nicht, nicht auf die Ritzen zu treten.

      Der Polizist, bei dem wir im Büro saßen, holte aus einem Schubfach Blätter raus, besah sich die, faßte mich über den Brillenrand weg scharf ins Auge und sagte: »Ja, Martin, bis vor kurzem bist du für uns ja noch ein unbeschriebenes Blatt gewesen …«

      Ich wurde rot, und es pochte in meinen Ohren.

      Bendorf, Penndorf. Im Hochwasser absaufen sollte das Drecknest, mit Mann und Maus. Ich für mein Teil wollte Bendorf bis an mein Lebensende meiden. Weder auftanken da noch einkaufen noch aussteigen und alten Omis über die Kreuzung helfen. Das hatten die sich verscherzt.

      Nach dem Elend in Bendorf hob Mama meinen Hausarrest auf, und ich tobte jubelnd durch alle Etagen, auf der Suche nach meinen Gummistiefeln. Eine Dreiviertelstunde Wambachtal war noch drin, und vielleicht würde Michael Gerlach mitkommen.

      Im Hobbyraum stand Wiebke auf dem Klavierhocker und kraßelte oben auf dem Klavier in den Noten. Nur aus Spaß, um Wiebke zu erschrecken, ruckelte ich am Hocker, und sie fiel runter auf den Boden und schrie wie am Spieß.

      Und schon hatte ich wieder Hausarrest, weil Wiebke sich bei ihrem Sturz den Arm gebrochen hatte.

      Wiebkes weher Arm mußte regelmäßig im Krankenhaus in Vallendar geröntgt und massiert werden, und der arme Arsch, der sie begleiten mußte, runter und wieder rauf, war natürlich ich.

      Erhard Schmitz kannte die Autogrammadresse von dem Turner Eberhard Gienger, und ich schickte ihm ein Gedicht: Von dort, von der Turnhalle komm ich her. Ich muß euch sagen, es freut mich sehr! Allüberall auf den Siegerpodesten sah ich Eberhard Gienger nesten.

      Am ersten Advent nahm Renate Volker und mich nach Koblenz mit, zum Konzert von Reinhard Mey in der Rhein-Mosel-Halle. Die Eintrittskarten hatte Mama gestiftet.

      »Und was sagt man dann?«

      »Danke.«

      Es war rappeldicke voll. Wir kriegten nur noch in der letzten Reihe links drei Plätze. Um was zu sehen, mußte man sich oben auf die Sessellehne setzen, aber wenn man das tat, wurde man von den Saalordnern angegiftet.

      Papas Fernglas hätten wir jetzt haben müssen.

      Die heiße Schlacht am kalten Büfett und Annabelle, ach Annabelle. Seit ich auf ihrem Bettvorleger schlief, da bin ich ungeheuer progressiv, ich übe den Fortschritt, und das nicht faul, nehme zwei Schritte auf einmal und fall aufs Maul.

      Ein leuchtend oranges Hemd hatte Reinhard Mey an. Von Wand zu Wand sind es vier Schritte, von Tür zu Fenster sechseinhalb.

      Irre, daß der alle Lieder auswendig konnte und sich nie verhaspelte, auch auf der Gitarre nicht.

      Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehn. Das kam als Zugabe.

      Ich wollte mir ein Autogramm holen, aber wo? Ob Reinhard Mey irgendwann rauskam zum Autogrammegeben? Ewig konnten wir auch nicht warten, weil wir zum Bus mußten.

      Auf der Rückfahrt las Renate im Nibelungenlied. Das hatte sie für Deutsch auf. Nu was er in der sterke daz er wol wâfen truoc. Swes er dar zuo bedorfte, des lag an im genuoc. Totaler Pillefax sei das, sagte Renate.

      Zwei Männer vom Kirchenchor gehen zum Weihnachtsliederabend. Fragt der eine den andern: Wer ist eigentlich dieser Owie? Fragt der andere: Welcher Owie? Sagt der erste: Na, der in Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, o wie lacht.

      Diesen Witz gab der Schlaumeier zum besten.

      Als im Fernsehen Musikladen kam und der Sänger von der einen Gruppe einen Hut mit Spiegeln dran aufhatte, ging Papa raus. Bei solcher Hottentottenmusik komme ihm die Galle hoch. Er habe auch noch was zu sägen in der Garage, und so entging ihm der Auftritt von Insterburg & Co., bei dem Karl Dall ein Lied geschenkt kriegen sollte von den drei anderen, Ingo Insterburg, Peter Ehlebracht und Jürgen Barz, die dann auch gleich was