Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Rest von meinem Kuchenstück verfütterte ich an die Möwen, die schreiend über der Fähre schwebten und sich die Krümel aus der Luft fingen, bis Mama ankam und mir die Hölle heißmachte. Ob ich den Verstand verloren hätte. Der teure Kuchen!

      Gna, gna, gna.

      Das beste war das Ausbooten. Fast noch auf hoher See von der Fähre in ein schwankendes Boot hüpfen und damit bis zum Hafen tuckern, aber Helgoland selbst war pottlangweilig. Zu den besten Kletterstellen durfte man nicht hin.

      Bei den Fotos schnitt ich jedesmal ein Gesicht wie Doof von Dick und Doof, was ich von Michael Gerlach gelernt hatte, und als der Film entwickelt war, brummte Mama mir einen Tag Hausarrest auf. »Die ganzen Bilder hast du uns versaut mit deiner blöden Grimasse! Das ist nun der Dank für die schöne Reise! Scher dich in dein Zimmer!«

      Dann durfte ich aber doch zukucken, als die neue Tiefkühltruhe von Neckermann gebracht und im Keller angeschlossen wurde. Die alte hatte den Geist aufgegeben.

      »Primstens«, sagte Mama und machte den Deckel zu.

      Von der Adria brachte Volker Fossilien mit, versteinerte Meeresschnecken, die er an ein Museum verkaufen wollte, aber Papa sagte, wenn ein staatliches Museum auf Kosten der Steuerzahler für dieses Geröll auch nur eine müde Mark hinblättere, wandere er noch am selben Tag nach Alaska aus.

      An der Gartenseite war die Dachrinne verstopft. Papa stellte zwei Leitern dran, und dann sollten Volker und ich mit Rundspachteln den Kniest aus der Rinne schaben. Modrige, verfilzte Blätterklumpen und anderes angebackenes Zeugs. Papa wollte das, weil Besuch ins Haus stand, meine Patentante Gertrud und Onkel Edgar mit Kindern. Als ob die vorgehabt hätten, die Dachrinne unter die Lupe zu nehmen.

      Gesehen hatte ich Tante Gertrud und Onkel Edgar noch nie. Die beiden waren schon alt, fast fünfzig, und Onkel Edgar hatte graue Schnurrbarthaare, so ähnlich wie Wiebkes Seehund vom Schrottplatz.

      Weil ich höflich sein wollte, hielt ich Tante Gertrud die offene Prinzenrolle von de Baeukeler hin, die sie mir vermacht hatte: »Wollen Sie auch selber welche?« Da lachten mich alle aus. Siezt der Dösbattel seine eigene Patentante! »Du weißt wohl nicht, wer ich bin?« sagte Tante Gertrud, und ich ärgerte mich, daß ich der überhaupt was angeboten hatte.

      Ihre Söhne Horst und Bodo, sechzehn und acht, machten Kopfstand auf dem Rasen und führten Yogastellungen vor. Bodo war nur ein Strich in der Landschaft, und Horst war Tante Gertruds Stiefsohn, ein Sprößling aus der ersten Ehe von Onkel Edgar, der sich dann hatte scheiden lassen, was ja wohl auch nicht die feine englische Art war.

      Abends wurde im Wohnzimmer rumgehockt, und ich durfte den Wildwestfilm im Zweiten nicht kucken. Im Höllentempo nach Fort Dobbs, das wäre mir lieber gewesen als das Gerede über Bausparverträge, Bandscheibengeschichten und Ostpreußen, und ich war heilfroh, als der Besuch sich wieder verkrümelt hatte.

      Dann kamen die Engländer, sieben Mann hoch. Tante Therese, Onkel Bob, Kim und Norman, ein Schwager und eine Schwägerin von Tante Therese, Stuart und Carol, und Collin, ein Sohn von denen, in Renates Alter, der kein einziges Wort Deutsch konnte.

      Carol war spindeldürr und abenteuerlich aufgetakelt. Die Haare rotgefärbt, lila Lidschatten, rosalackierte Krallen, an den Ohren protzige Edelsteine und dazu eine Fistelstimme. »Solche Schreckschrauben werden auch nur in England gezüchtet«, hörte ich Papa sich selbst zuflüstern, als ich vor der Klotür wartete. Bei dreizehn Leuten im Haus kam es alle naselang vor, daß sämtliche drei Klos besetzt waren.

      Nachmittags gab’s Kaffee, Kaba und Bienenstich auf der Terrasse. Sieh mal kucke. Ohne Besuch hätte Mama das alles im Leben nicht aufgetischt.

      Als ein Geschwader Wespen über uns herfiel, bewaffnete Mama sich mit der Fliegenklatsche, in der oben noch Flügel, Beine und halbe Köpfe von zerdötschten Fliegen klebten.

      Aus dem Nachbargarten kam die kleine Dörte Rautenberg gelaufen, rot mit Himbeersaft beschmiert bis über beide Backen.

      »Who is that?« fragte Onkel Bob, und als er hörte, daß das Mädchen Dörte hieß, rief er: »Dirty! What a suitable name!«

      Was daran so witzig war, mußte ich mir erst erklären lassen.

      Aus Fix und Foxi kannte ich einen guten Witz mit Lupo auf dem Postamt. »Der Brief ist zu schwer«, sagt der Postbeamte, »da muß noch eine Marke drauf!« Darauf Lupo: »Witzbold, dann wird er ja noch schwerer!«

      Auswendig hatte ich sonst keinen Witz mehr auf Lager, und ich wetzte ins Wohnzimmer, um Willy Millowitschs Witzebuch zu holen, aber Renate war dagegen. Witze vorlesen sei doof.

      Wenigstens einen wollte ich aber loswerden. Eine größere Familie geht an einem schönen Frühlingstag spazieren. Nach geraumer Zeit blickt sich die Mutter um und stellt fest, daß die Tochter samt Bräutigam verschwunden ist. »Was machen denn die Kinder bloß?« fragt die Mutter unruhig. Der Vater erwidert lakonisch: »Nachkommen.« Das war ein Witz, den man nicht ins Englische übersetzen konnte.

      Im Hobbyraum wurde ein Matratzenlager für die Jugend eingerichtet. Renate schleppte den Plattenspieler nach unten und legte für die Engländer die Platte von Ulrich Roski auf den Teller: Laß dir Ringe um die Beine schweißen, daß dich nicht die Schweine beißen, Baby.

      Nach Boppard fuhren wir ohne Renate und Kim. Die wollten lieber in Koblenz Shopping machen, also Gürtel und hochhackige Schuhe begaffen und die Preise vergleichen.

      In der Sesselbahn machte ich mir, als ein Windstoß kam, vor Schreck einen Strahl Pisse in die Hose, aber das merkte keiner.

      Von oben konnte man auf die Rheinschleife sehen und die Schleppkähne, die da fuhren. Wie das wohl ausgesehen hätte, wenn da zwei zusammengeknallt wären und abgesoffen.

      Ich lief mit Volker im Wald rum, bis Mama nach uns rief.

      »Wollt ihr schon zurück?«

      »Dreimal darfst du raten.«

      Im Schwimmbad quasselte Renate drei Typen an, Jochen und Henry und Dirk, die sie alle zu ihrer Geburtstagsparty einlud. Das hätte ich mal bei Piroschka versuchen sollen. Da hätten sie mich doch gleich nach Andernach gebracht, ins Beklopptenheim.

      Genaugenommen hätte Piroschka ja auch mal zu mir kommen können, um mich zu irgendwas einzuladen, die Transuse.

      Ich sah mich überall nach ihr um, aber sie war nicht da, und auf dem Platz, wo sie sonst gesessen hatte, räkelte sich ein Opa, der Quick las.

      Zum Geburtstag kriegte Renate Ringe, Taschentücher und Parfüm und solchen Kack. Mädchen waren schon arme Schweine.

      Volker erzählte von den Riesenkraken, die ich nicht gesehen hatte, weil ich am Abend vorher bei Geheimnisse des Meeres vorm Fernseher eingeschlafen war. Seeungeheuer seien da noch gezeigt worden und gigantische Tintenfische mit achtzehn Beinen und drei Köpfen, aber es konnte auch sein, daß Volker mich auf die Schippe nahm.

      Renates Partygäste kamen alle mit Platten: The Lion Sleeps Tonight, Guantanamera, Que sera und Popcorn, das Stück aus dem Synthesizer. Renates Freundin Mareike kam zusammen mit Susanne, einer Riesin aus Lahnstein, die eins neunzig lang war und auf der Kellertreppe den Kopf einziehen mußte.

      Volker, Norman, Kim und Collin feierten auch mit. Hopsten da rum wie die Irren. One Way Wind und Old Man Moses. Haschu Haschisch inne Taschen.

      »Frag die mal, ob die noch Salzstangen wollen«, sagte Mama, »und dann komm wieder rauf und sag mir, was die da unten treiben.«

      Ich ging runter. Im Schummerlicht kauerten Pärchen, und zwei Weiber tanzten zu Butterfly, my Butterfly. Eine Welt voll Poesie, die Zeit blieb für uns stehn, doch der Abschied kam, ich mußte gehn.

      »Und was machen die da?«

      »Nichts.«

      Als die Engländer abgereist waren, sagte Papa, daß er die Nase gestrichen voll habe von Logiergästen, insbesondere von Carol. Diesem wandelnden Tuschkasten weine er keine Träne nach. »Schlimmer als die Polizei erlaubt.«