Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Erben«, sagte Tante Dagmar, und dann durfte ich mir aussuchen, was ich zuallererst wollte, Kuchen essen oder in den Zoo oder eine Langspielplatte aussuchen.

      Erben hatte Tante Dagmar keine. Sie war auch nicht verheiratet. »Jeden Abend denselben Kerl auffem Sofa, dreißig Jahre lang? Und womöglich Papi zu dem sagen, und der nennt mich Mami?« Soweit komme das noch, aber nicht mit ihr.

      Ohne Ehemann mußte Tante Dagmar selbst arbeiten gehen, weswegen sie aber auch viel Geld hatte und mir so mir nichts, dir nichts eine LP schenken konnte, eine von Bruce Low. Noah schrie: Herr, es gießt in Strömen hier! Der Herr sprach: Noah, hurry up und schließ die Tür!

      In Tante Dagmars Wohnung war ein ganzes Regal mit Platten voll. Smetana, Mozart, Schubert und Beethoven, Eroica. Die vier Jahreszeiten und der gepfiffene River-Kwai-Marsch. Reinhard Mey live. Der Schwiegermuttermord von Jürgen von Manger.

      Honululu, Uppsala und Maratonga.

      Als ich schon im Bett lag, kam Tante Dagmars neuer Freund Jörg, der im Rundfunkorchester Flöte spielte, und ich konnte die beiden flüstern hören.

      Trompete hätte ich besser gefunden.

      Zum Frühstück durfte ich Cola trinken und mir fingerdick Käpt’n Nuß aufs Brötchen schmieren. Als Jörg das sah, ließ er sein Besteck fallen und sagte: »Sorry, mir vergeht der Appetit, wenn ich sehe, wie sich einer Scheiße aufs Brot kleistert«, wovon ich so lachen mußte, daß ich mich verschluckte und Krümel auf den Tisch hustete. Papa hätte mir eine gefenstert, aber Tante Dagmar lachte mit.

      Ich durfte auch Kennen Sie Kino kucken und im Funkhaus, wo Tante Dagmar zur Arbeit ging, auf den Händen laufen. Da kriegte ich Applaus, wenn das jemand sah.

      Einen Narren an mir gefressen hatte Tante Dagmars Kollegin Frau Leineweber, eine steinalte Dame mit großen Augen hinter den Brillengläsern. Für Frau Leineweber legte ich Sendeprotokolle zusammen und erhielt von ihr jedesmal zwei Mark zur Belohnung.

      In der Kantine kaufte Tante Dagmar mir soviel Tortenstücke, wie ich verdrücken konnte. Paradiesisch. Ich sollte mir nur nicht den Magen verderben.

      Weil sie keine Zeit mehr hatte, in die Stadt zu gehen, kaufte Tante Dagmar der Kantinentante zwanzig Eier ab, die sie auf dem Rückweg zum Büro in einem offenen Karton vor sich hertrug, und ich durfte einen Blick in das Zimmer werfen, in dem die Agenturmeldungen aus den Tickern gerattert kamen. Indira Gandhi, Tschiang Kai-schek und Papadopoulos.

      Im Treppenhaus kam ein Typ mit giftgrüner Fliege an und sagte: »Klatschen Sie doch mal in die Hände, Frau Lüttjes!« Tante Dagmar machte das, und der Eierkarton fiel dem Typen vor die Füße, wobei fast alle Eier kaputtgingen und Eigelb hochspritzte.

      »Wenn mir einer so blöd kommt, braucht er sich nicht zu wundern«, sagte sie, als wir zurück zur Kantine gingen, neue Eier kaufen.

      Nachhause schrieb ich eine Ansichtskarte mit dem Maschsee vornedrauf. Daß Hannover die Wucht in Tüten sei und daß ich statt Mittagessen immer Kuchen und Negerküsse essen dürfe.

      Tante Dagmar hatte Welfenspeise gemacht. »Da könnt ich mich reinsetzen«, sagte Jörg und gab Tante Dagmar zwischen zwei Löffeln einen Kuß auf die Nase. Papa hätte nur gesagt: »Schmeckt wie Zement.«

      Über Ostern fuhren wir nach Jever. Am Bahnhof stand Gustav Gewehr bei Fuß, um uns abzuholen. Sein Stottern war nicht mehr so doll wie früher. Er sang sogar was: »Wer hat mein Glied so zerstört?«

      Oma strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als wir da waren, und Opa stellte fest, daß ich gewachsen sei. »Du heiliger Strohsack!« In Opas Jugend seien die Menschen alle viel kleiner gewesen. Oder im Mittelalter erst. In die Ritterrüstungen von damals würden heute nur noch Halbwüchsige reinpassen.

      Als ich im Schloßgarten eine Ente erschreckt hatte, war Tante Dagmar sauer. »Mit dir kann man nirgendwo hingehen«, sagte sie, und ich dachte zum ersten Mal im Leben daran, ihr was Schlechteres als eine Eins zu geben.

      Pfauenfedern fand ich keine.

      Die Reise zum Mittelpunkt der Erde war das beste, was an den Feiertagen im Fernsehen kam. Mammutpilze, heiße Dämpfe und fleischfressende Riesenechsen, ein unterirdischer Ozean mit Strudel und eine versunkene Stadt, in der ein Drache mit langer Schlabberzunge im Hinterhalt lag. Dann brach ein Vulkan aus, und der Drache wurde unter glühender Lava begraben.

      In der Küche stand ein großes Einmachglas mit hartgekochten und gepellten Eiern in Salzwasser. Da ging Gustav hin, wenn er ein russisches Ei essen wollte. Ei halbieren, Dotter mit dem Löffel rauspolken, Essig, Pfeffer und Salz in die Mulde streuen, Senf drauf, Dotter umgekehrt wieder aufsetzen und runter damit. Ich aß auch einmal ein russisches Ei, und mir kamen die Tränen.

      Beim Mittagsschlaf hatte Oma geträumt, eine Riesengesellschaft bekochen zu müssen. Sie habe immer solche Träume. »Ganze Paläste reinigen, Teppiche ausklopfen, Fische ausnehmen und all sowas daher. Hausfrauenträume eben!«

      Gustav saß in seinem Zimmer und studierte Meyers Großes Personenlexikon. Er war berühmt dafür, daß er Lexikons auswendiglernte.

      »Lexika heißt das.«

      Im Regal standen ein Modell vom Eiffelturm und eine Bobbypuppe mit roter Weste und schwarzem Bobbyhut, ein Souvenir aus London. Und Bücher in rauhen Mengen. Der große Ploetz. Duden Stilwörterbuch. Das Handbuch des Deutschen Bundestages. Kulturfahrplan. Der Fischer Weltalmanach 1969. Kurze Geschichte Afrikas. Das treffende Zitat. Wer ist wer?

      Um Gustav zu erschrecken, sprang ich ihm auf den Schoß, wobei ich sah, daß er innen in dem aufgeklappten Lexikon eine Zeitschrift mit Nacktfotos liegen hatte.

      »Jetzt reicht’s aber, du Quälgeist«, rief er und schmiß mich raus.

      Zu Opas 76. Geburtstag kamen schon vormittags acht andere Opas und qualmten Zigarren, bis man im Wohnzimmer keine Luft mehr kriegte.

      Warum haben die Ostfriesen so flache Hinterköpfe? Weil ihnen beim Wassertrinken immer der Klodeckel auf den Kopf fällt.

      Oma saß solange mit den anderen Omas in der Küche.

      Als die Luft wieder rein war, ordnete Gustav im Wohnzimmer seine Bierdeckelsammlung. Rund dreihundert Stück hatte er schon beisammen. Daß es die umsonst gab, wollte ich nicht glauben, aber Gustav nahm mich mit in eine Kneipe, und da kriegte ich fünf Bierdeckel geschenkt vom Wirt.

      Opa studierte das Kursbuch, um die beste Verbindung für uns zu finden. Dann und dann ab Jever, in Sande umsteigen, Ankunft in Hannover um soundsoviel Uhr, oder einen Zug früher nehmen und zweimal umsteigen.

      So sei das im Krieg schon gewesen, sagte Oma. »Da freut man sich über einen Brief, und was steht drin? Meine liebe Emma, heute ist dein Brief vom achten neunten angekommen, der nur vier Tage gebraucht hat, während der vom neunten achten sechzehn Tage lang brauchte, im Gegensatz zu dem Brief Nummer vierzehn vom dritten sechsten! Zum Auswachsen!«

      Von Hannover brachten Jörg und Tante Dagmar mich mit dem Auto zurück nach Koblenz. Dabei krakeelten sie ein Lied von einem Heideblümelein, das Erika hieß.

      Mama machte Tante Dagmar eine Szene: Ob es stimme, daß ich immer nur Kuchen gekriegt hätte statt regulärer Mahlzeiten? »Ich kann bloß hoffen, daß du uns hier keinen verzogenen Bengel wieder abgeliefert hast!«

      Renate wollte sich eine neue Single kaufen. Ich erzählte Stephan Mittendorf davon. Wir verabredeten uns für vier Uhr, mußten aber fast bis halb sechs warten, bis Renate sich an der neuen Single sattgehört hatte. How do you do, nanaaa, nana, nanaaa, nana …

      Dann kam ein Anruf aus Jever: Tante Lina sei gestorben. An die konnte ich mich kaum noch erinnern. War das die aus Hooksiel gewesen?

      Die Arbeiter, die die Holzverschalung für die Vorgartenmauer bauten, hatten Filzhüte auf.

      Im Schulbus stritt ich mich mit Stephan Mittendorf, der für Rainer Barzel war, den alten Schleimscheißer, und nicht für Willy Brandt. Stephan Mittendorf hatte sie nicht mehr alle.