Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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lang. Vor Piroschkas Haus saß ein kleiner Junge und malte mit Kreide was aufs Pflaster. Das konnte ihr kleiner Bruder sein, und ich lächelte ihn gutmütig an, aber er streckte mir die Zunge raus und rief: »Du bist doof! Das hat die Piroschka gesagt!«

      Und ich Idiot hatte mich da noch blicken lassen. Ich legte das Gelübde ab, nie wieder einen Fuß in die Rudolf-Harbig-Straße zu setzen. Und wenn Piroschka hier angewinselt käme, um sich zu entschuldigen, würde ich der die Tür vor der Nase zuknallen.

      Da konnte sie Gift drauf nehmen, die dumme Pute.

      Morgens drehte sich alles um Wiebke, weil es ihr allererster Schultag war, aber ich fand, daß so eine Einschulung pipileicht war im Vergleich zum Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium.

      Papa fuhr mich hin, durch Urbar, dann am Rhein lang, am Deutschen Eck vorbei, durch Ehrenbreitstein und über die Brücke, und er zeigte mir auch die Stelle, wo wir uns mittags wieder treffen sollten, am Zentralplatz in Koblenz. Dann gingen wir zum Eichendorff-Gymnasium.

      Die Zeremonie zur Begrüßung der Sextaner fand in der Aula statt. Da waren die Fensterscheiben lange nicht geputzt worden. Der Direx hielt eine Rede. Links hatte er einen braunen Lederhandschuh an, und der Arm war steif, das war eine Prothese, wie ich später erfuhr.

      Ich kannte keine Sau in dem ganzen Laden, aber Papa sagte, ich würde schon noch rausbekommen, wie der Hase läuft.

      Das Gymnasium war ein riesiger Kasten, kein Vergleich mit der Karl-d’Ester-Schule. Die hätte da glatt zehnmal reingepaßt. Und alles Jungs.

      In der Klasse sicherte ich mir einen Platz ganz vorne. Ein grauhaariger Fritze mit Schlips und Anzug war der Deutschlehrer und gleichzeitig der Klassenlehrer. Er schrieb seinen Namen an die Tafel: Meier. »Zur Unterscheidung von dem Kollegen Meier, der Sport und Erdkunde unterrichtet, nennt man mich auch Deutsch-Griechisch-Französisch-Meier.«

      Wir sollten Namensschilder malen. Wenn er die nicht lesen könne, behelfe er sich mit Eselsbrücken: »Keiner kommt mehr richtig mit, vorne Schulze, hinten Schmidt.« Bei uns hieß er deshalb der Schlaumeier.

      Für uns beginne jetzt der Ernst des Lebens. Hier wehe ein anderer Wind als in der Grundschule. Nach den Kinkerlitzchen, die wir da gelernt hätten, kämen nun die schweren Brocken. Als Gymnasiasten dürften wir unsere Ausbildung nicht auf die leichte Schulter nehmen, sonst werde man uns schon nach kurzer Zeit wieder aussortieren, als Muster ohne Wert, und uns anheimstellen, die Laufbahn eines ehrbaren Straßenkehrers einzuschlagen. Erziehung habe was mit Zucht zu tun.

      Ob uns das klar sei? Klar und Klärchen? Da sollten wir mal den einen oder anderen Gedanken dran verschwenden.

      Neben dem Haupteingang stand eine beschmierte Büste auf einem Sockel, von Friedrich Mohr, Naturwissenschaftler und Pharmazeut, von dann bis dann. Die wußten auch nicht, was sie wollten. Nannten das Gymnasium Eichendorff und stellten ein Denkmal von jemand anderem davor.

      Auf Papa hatte ich schon fast zwanzig Minuten lang gewartet, bis mir auffiel, daß ich an der falschen Stelle vom Zentralplatz stand. Als ich zur richtigen gelaufen war, rief Papa: »Da bist du ja endlich, du Tranfunzel!«

      Im Auto fragte er mich, wie mir die neue Schule gefalle.

      »Geht so.«

      Mama sagte, daß sie als Schülerin immer zugesehen habe, einen Platz ganz hinten zu kriegen. Da habe sie den besten Überblick gehabt, und es sei weniger Keile ausgeteilt worden als weiter vorne. In die erste Reihe hätten sich nur die Streber gesetzt.

      Zum Frühstück gab’s jetzt Brötchen, die der Bäcker an die Tür brachte. Zwölf Stück, für jeden zwei. Viel besser konnten es auch Mittendorfs nicht haben. Oder nur, wenn es bei denen Mohnbrötchen gab statt gewöhnlicher Brötchen.

      Michael Gerlach war aufs Max-von-Laue-Gymnasium gekommen, gleich gegenüber vom Eichendorff, und wir saßen jeden Morgen im selben KEVAG-Bus, der auf dem Mallendarer Berg noch leer war und ab Urbar immer so proppenvoll, daß die Leute stehen mußten.

      KEVAG: Koblenzer Elektrizitätswerk und Verkehrs-Aktiengesellschaft. Fast sowas wie Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft.

      Ein Fiesling, der jeden Morgen in der Pfarrer-Sesterhenn-Straße zustieg, hatte spitze Ohren wie der Spock von Raumschiff Enterprise und zutzelte an seinen Zähnen.

      Zwischen Urbar und Ehrenbreitstein stand der Bus immer eine halbe Stunde lang im Stau. Da war der Berufsverkehr dran schuld.

      Die Pauker am Max von Laue seien alle hoffnungslos vergreiste alte Hosenscheißer, sagte Michael. Sein Bruder Holger gehe da schon zwei Jahre lang hin und sei restlos bedient von dem Verein.

      Von der Pfaffendorfer Brücke aus konnte man die abgeknickte neue Brücke sehen, die noch immer in den Rhein hing.

      Aussteigen mußten wir beide an der Christuskirche.

      »Und da verließen sie ihn«, sagte der Schlaumeier, wenn jemand was nicht wußte, und: »Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen.« Oder: »Hier spielt die Musik!«

      Ein Apostroph sei das Grabmal für einen verstorbenen Buchstaben. »Verstanden, Herr von und zu, auf und davon Schlosser?«

      Fabeln von Lessing. Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Und so weiter. Hier lernte ich auch, daß es Bibliothek hieß und nicht Bibilothek, Rückgrat und nicht Rückrad und nicht Augenbraunen, sondern Augenbrauen.

      Was der Schlaumeier mit Kreide auf die naß abgewischte Tafel schrieb, war anfangs unleserlich und dann leserlich.

      Den Unterricht in evangelischer Religion hatten wir bei einer ondulierten Gewitterziege namens Jutta Niedergesäß. Die hieß wirklich so. Bei der lernten wir Fremdwörter wie Genesis, Exodus, Leviticus, Deuteronomium und Septuaginta. Einer aus der Klasse hatte die Masche, immer Jesu Christi zu sagen statt Jesus Christus. Jesu Christi verkündet, Jesu Christi lehrt, Jesu Christi gebietet, hundertmal in jeder Stunde.

      Herr Delling, der Mathelehrer, war ein fetter alter Saftsack. Glatze mit Geländer und kriegsversehrt. Das hohle Hosenbein war hochgeschlagen und oben am Gürtelbund angenäht.

      Mathematik heute: Das Buch war grün mit bunten Karos vornedrauf. Enthält eine Menge nur ein Element, so spricht man von einer einelementigen Menge. Es gab Obermengen und Untermengen, Grundmengen und Erfüllungsmengen, Schnittmengen und Restmengen, Minuenden und Summanden und Subtrahenden. Dazu noch das Kommutativgesetz: Das Vereinigen von Mengen ist kommutativ. Und das Distributivgesetz: Die Kreuzmengenbildung ist bezüglich der Vereinigung distributiv.

      Köln, Frankfurt, Stuttgart und München haben untereinander direkte Airbus-Verbindung. Gib durch geordnete Paare alle Möglichkeiten für einen Flug (von Stadt zu Stadt) an. Ist die Menge aus diesen Paaren eine Kreuzmenge? Begründe deine Antwort!

      Da mußte man ja gaga sein, wenn man das beantworten konnte.

      Multiplikand und Multiplikator, Quotient und Divisor, Punktmengen und Parallelogramme. Mit dem Geodreieck sollten wir orthogonale Geraden zeichnen, was mir tierisch auf den Wecker ging, weil ich schon die Namen von dem Scheiß nicht leiden konnte.

      Englisch hatten wir bei Herrn Lauritzen, der einen Bart um den Mund rum hatte, wie mit dem Teppichmesser ausgeschnitten. Und feuchte Aussprache. Da hätte man einen Regenschirm aufspannen müssen.

      The Good Companion. I see a cat. The cat is fat. Can you see the cat?

      The zebra in the zoo is suffering from flue.

      Einen Bart trug auch Herr Engelhardt, der Biolehrer, aber nur an den Backen und am Kinn. Das war der einzige Lehrer, der in Jeans zur Schule kam. Aber wechselwarme Tiere und die Magenteile der Wiederkäuer interessierten mich nicht für fünf Pfennig, so wenig wie in Musik bei Herrn Bosch die ganzen besengten Namen der Orchesterinstrumente. Kesselpauke, Violoncello, Fagott und Englischhorn.

      In Geschichte seiberte ein Pauker mit Himmelfahrtsnase über Chaldäer, Assyrer und Phönizier, die Gesetzesstele des Hammurabi und die dorischen