Meinhard-Wilhelm Schulz

Venedig sehen und morden - Thriller-Paket mit 7 Venedig-Krimis


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auf, die sich hier und da durch die engen Calli schlängelten, um hin und wieder an einer Trattoria halt zu machen und dort etwas zu trinken oder einen kleinen Happen zu sich zu nehmen.

      Es waren ausnahmslos junge Frauen, die sich so furchtlos bewegten, als wäre nichts geschehen. Ihre Kleidung als ‚züchtig‘ zu beschreiben, hieße, ihnen der Ehre ein wenig zu viel anzutun. Vom ältesten Gewerbe unterschieden sie sich immerhin darin, dass sie sich keine unnötige Blöße gaben. Gelegentlich versuchte ein junger Spund, die eine oder andere der Süßen anzuquatschen, aber sie waren auf keine Liebeshändel erpicht und wiesen solchen Anträgen die kalte Schulter. Was aber nur Marcello, di Fusco und Volpe wussten: Es waren Nachwuchspolizistinnen, Freiwillige, welche furchtlos den Lockvogel spielten.

      Die Zeit ist ein seltsames Ding: Beobachtet man sie mittels einer Uhr, so scheint sie sich mit gleichbleibender Regelmäßigkeit voran zu bewegen und keinen Blick zurück zu gestatten. Daher halten sie manche für ein fest zusammenhängendes Band, das aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft reicht, aber das ist grundlegend falsch. Als Beweis dafür möchte ich folgende Überlegung anstellen:

      Die alten Griechen verehrten den Gott Kairós, und ihre Künstler stellten ihn folgendermaßen dar: ein schnell dahin eilender nackter Jüngling, der in der erhobenen Rechten ein Messer trägt, die Spitze nach oben gerichtet; auf der Stirn eine üppige Haarlocke. Sein Hinterkopf ist kahl rasiert. Kairós symbolisiert die Zeit: Wir leben nur im Augenblick, ‚auf des Messers Spitze‘, und wenn wir die ‚Gelegenheit nicht beim Schopf‘ ergreifen, ist sie vorüber, denn am Hinterkopf lässt sich Kairós nicht mehr fassen.

      Daraus folgt, dass alles Vergangene verloren ist, während die Zukunft nur durch den Zugriff auf die Haarlocke des Kairós zu sichern und zu bewältigen ist. Auf diesen erlösenden Augenblick warteten wir nun alle, Marcello, Ambrosio, Volpe und ich samt den Bewohnern mit klopfendem Herzen, aber eine scheinbare Ewigkeit geschah nichts, denn die Zeit, die sonst vor uns flüchtet, wollte und wollte nicht voran schreiten.

      Mitternacht war längst vorüber und damit anscheinend die Gefahr, als ich neben Volpe durch die ‚Calle di Pistor‘ schlenderte, den Blick nach vorne gerichtet, wo sich rund 50 Meter vor uns eine hoch aufgeschossene Polizistin mit katzenhafter Geschicklichkeit bewegte. Ich wand meine bewundernden Blicke los von dieser prächtigen Blondine in ihrem am Körper klebenden schulterfreien viel zu kurzen Hemdchen, aus dem prächtige Schenkel hervor quollen. Ich reckte mich, als wolle ich mich größer machen, blickte zu Volpe empor und dachte ganz im Stillen:

      »Das sollte der Mörder einmal wagen, sich mit ihr anzulegen. Sie wird ihn auf der Stelle mit dem Kampfmesser, das sie verborgen unter dem Gewande trägt, niederstechen.«

      »Sie ist wirklich groß, die Zuckerpuppe da, zu groß für dich, alter Schwerenöter. Aber wenn du meinst, das schütze sie, nein, da wäre ich gar nicht so sicher«, flüsterte mir Volpe süffisant ins Ohr, der mich beobachtet und seine Schlüsse aus meiner Mimik gezogen hatte, »denn wir haben es hier mit einem gefährlichen Gegner zu tun. Keiner weiß, was und wie er plant. Immer besitzt er die Initiative, und das ist sein Vorteil. Ferner hast du recht. Das Mädchen ist tatsächlich einen Kopf zu groß für dich, lieber Doktor, obwohl du scharf auf sie bist, hihihi.«

      Ich ärgerte mich fürchterlich darüber, dass Volpe sich wieder einmal ins Spiel meiner Gedanken eingeklinkt hatte und beschloss, künftig wie ein Stoiker aus der Wäsche zu gucken. Ferner nahm ich mir vor, es ihm eines Tages heimzuzahlen und auf gleiche Weise auch einmal seine Gedanken zu erraten.

      Noch tobte ich vor innerer Wut und sandte meine begehrlichen Blicke wieder auf den blanken Rücken der mit schlenkerndem Gesäß daher schreitenden Beamtin, da ging sie an der Einmündung einer winzigen, kaum wahrnehmbaren Gasse vorüber, der ‚Calle Forno‘, leichtfüßig wie die Gazelle der Steppe.

      Doch kaum war sie einen einzigen Schritt hinter diesen Schlund geraten, als eine große, in einen schwarzen Umhang gekleidete Gestalt aus ihm heraus federte, eine hoch aufgeschossene Person, das Haupt in der Kapuze verborgen. Mit zwei-drei Sprüngen hatte er sie eingeholt und rammte ihr den im künstlichen Licht einer matten Laterne blinkenden Dolch unterhalb des Schulterblattes bis ans Heft in den Rücken und zog ihn wieder heraus.

      Während sie kreischend aufschrie und zu taumeln begann, ließ er das Messer klirrend zu Boden fallen und nahm sie für die Dauer weniger Herzschläge in die Arme, als wäre sie seine Geliebte, um sie dann sanft über das grobe Pflaster zu legen, wo sie, auf dem Rücken liegend, ihr Herzblut verströmte. Für einen Augenblick sahen wir ihre rechte Hand empor zucken und sich im Saum des Ponchos verkrallen. Ein knirschendes Geräusch deutete darauf hin, dass der Stoff des Kapuzenmantels eingerissen war.

      Doch da griff der Mörder schon nach seinem auf dem Pflaster liegenden Messer, trennte der zuckend im Blute Liegenden mit einem einzigen Schnitt das feine Gewand auf, von oben bis unten, und legte die beiden Teile links und rechts neben sie, um schon mit einem riesigen Satz im Halbdunkel der ‚Calle Larga‘ unterzutauchen. Dabei glitt ihm die Kapuze vom Kopf.

      Wir gewahrten helles schulterlanges Haar, das über einem auffällig schlanken Nacken im Winde wehte. Der Mörder war ein Mann, das stand jetzt fest, ein junger oder jüngerer Mann mit fast femininer Ausstrahlung und unglaublich flink auf den Beinen, das Gegenteil des typischen Verbrechers.

      Obwohl Volpe und ich, sobald wir die sich abzeichnende Katastrophe erkannt hatten, wie verrückt zum Tatort gerannt waren, kamen wir zu spät. Auch eine andere Beamtin, die den Ort des Verbrechens noch kurz vor uns erreicht und dem Mörder beinahe Aug in Aug gegenüber gestanden war, konnte nichts mehr tun. Wie gelähmt stand sie neben uns vor der Blutlache, bevor sie wie verrückt zu kreischen begann.

      Die Frau, in die ich mich gerade eben verliebt hatte, lag jetzt, im Todeskampf mit den Armen das Pflaster schlagend, vor uns. Ich fühlte ihr den Puls: nichts mehr! Sie war tot. Wir ließen sie liegen und stürmten in die genannte Gasse hinein, in der wir ein fernes Tappen von Füßen vernahmen.

      Die heulende Polizistin blieb bei der Leiche zurück. Wir beiden eilten dem Verbrecher hinterher, aber das Tappen der Füße hörte plötzlich auf. Wir standen vor dem sanft murmelnden ‚Rio di Santa Sofia‘. Wir lauschten angespannt, die Hände fest hinter die Ohrmuscheln gepresst, und da! Ein fernes Kichern ertönte. Es war das schrille Kichern eines Irren, das immer, immer lauter wurde, ein so lautes Kreischen schließlich, dass es schneidend die Gasse durchschrillte und ein mehrfach gebrochenes Echo fand, von Hauswand auf Hauswand prallend, um wieder abzuebben; dann wieder Stille, lähmende Stille, Totenstille.

      Vom Grauen überwältigt standen wir auf der Stelle. Ich blickte gen Himmel und flehte den Herrgott um Beistand an, während mir ein feines Geräusch den Magen zusammenkrampfen ließ, ein Schlucken und Schluchzen war es, das Schluchzen eines Mannes, der die Herrschaft über sich verloren hat, Ausdruck der grenzenlosen Verzweiflung.

      Volpe stand tief gebeugt im gebrochenen Schein einer trüben Laterne und hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen. Entsetzen, Trauer und Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen. Er tat mir unendlich leid. Ich wusste, wie ihm zumute war, legte ihm den Arm über die knochige Schulter und sagte:

      »Geschehen ist geschehen. Du hast dein Bestes gegeben. Wir können nichts mehr tun. Es ist ein unerklärlicher Ratschluss Gottes. Lass uns zur Getöteten gehen! Mein Gott! Dieses wunderschöne Mädchen! Und schon tot.«

      »Gut, gut«, flüsterte Volpe stimmlos-heiser, »gut, lass uns gehen, auch wenn ich mich tausend Meilen weit weg wünschte, denn es gibt Augenblicke, an denen ich nach dem Tod verlange und meinen Beruf von Herzen verwünsche.«

      Wir eilten zur Walstatt zurück, wo di Fuscos Männer mittlerweile eingetroffen waren und die neugierigen Passanten zurück drängten. Mit finsterer Miene und herunter gezogenen Mundwinkeln stand der Tenente da, starr und steif.

      Er hatte inzwischen den Namen der toten Polizistin notiert, die einen winzigen Augenblicklang den Mörder gesehen hatte. Dann endlich beugte er sich über die Leiche der Frau und zog das Kleid sorgsam über ihrer Brust zusammen. Ein Kollege deckte ihr das verzerrte Gesicht mit einem kleinen Tuch zu, und schon hatten auch wir den Ort des Grauens erreicht.

      »Ach,