Meinhard-Wilhelm Schulz

Venedig sehen und morden - Thriller-Paket mit 7 Venedig-Krimis


Скачать книгу

Atem:

      »Er hat sich, so scheint es, im Schutze der Dunkelheit in Nichts aufgelöst. Wieder zeigt er damit, wie genau er sich auskennt, so gut, dass er sich sogar blind zurechtfindet. Er ist hier in der Nähe zuhause oder hat hier einen Unterschlupf. Ferner konnte ich mich davon überzeugen, dass er ungefähr von meiner Größe ist und das blonde, aber wahrscheinlich nur blondierte Haar schulterlang trägt. Sein Hals ist von filigraner Gestalt. Er ist kaum älter als dreißig Jahre oder noch darunter. Er hat erneut mit seinem Dolch zugeschlagen, diesmal hinterrücks.«

      »Sag’s doch gleich«, maulte Ambrosio, »dein Plänchen ist in die Hose gegangen. Wir haben hier die vierte Ermordete und sind keinen einzigen Schritt weiter gekommen. Sauerei!«

      »Vielleicht doch, zumindest ein Wenig«, sagte Volpe, »denn ich sah, wie sie sich, als er sie aufs Pflaster legte, im Saum seiner Kapuzenjacke verkrampfte. Das zugehörige Geräusch deutet darauf hin, dass ihr ein Teil des Mantels in der Hand geblieben ist.«

      »Und was willst du damit anfangen? Wenn ich er wäre, ließe ich das beschädigte Gewand umgehend verschwinden.«

      »Und dennoch kann uns das weiter helfen«, sagte Volpe und beugte sich zu ihr hinunter. Sie lag mit weit ausgestreckten Armen auf der Straße. Ihre rechte Hand war zur Faust zusammen gekrampft. Er öffnete ihr vorsichtig die Finger, lupfte einen Stoff-Fetzen hervor und hielt ihn ins Licht der nächsten Laterne, um ihn dann in der Tasche verschwinden zu lassen:

      »Reine Seide mit ein paar Prozent Elastin, irgendwie schillernd«, sagte er, »höchst bemerkenswert!«

      »Was sollen wir mit so etwas schon anfangen? Was hast du vor?«, fragte Ambrosio.

      »Ich kann es noch nicht sagen«, erwiderte Volpe, »aber es ist gut möglich, dass wir den Mörder schon morgen fassen werden. Einstweilen halte dich bitte mit deinen Männern bereit! Ich gebe dir auf dem Mobilfon Bescheid, sobald ich Beistand brauche.«

      Dann zu mir:

      »Gehen wir, lieber Sergiu, es wartet noch einiges an Arbeit auf uns. Ich habe die erforderlichen Adressen im Kopf. Zuvor aber müssen wir zu mir nach Hause. Ich muss den Fetzen unter die Lupe nehmen.«

      »Welche Adressen?«, fragte ich, blöde glotzend, und hatte keine Ahnung, was er meinte oder plante.

      »Du wirst schon sehen«, sagte er und ging eilig mit mir davon, während Marcello mit militärischer Macht den Schauplatz der neuerlichen Tat besetzte. Wie ich später erfuhr, schäumte er vor Wut, sich auf das Plänchen dieses neunmalklugen Privatdetektivs eingelassen zu haben, der da wieder einmal seinen unfehlbaren Methoden gefolgt sei. Dann ließ er die Leiche wegschleppen und in den Eiskeller des Reviers überstellen, wo sie neben die anderen Opfer des Wahnsinnigen gebettet wurde.

      Bemerkenswert war noch Folgendes: Marcello hatte sämtliche Brücken des Viertels über die angrenzenden Kanäle, den ‚Rio di santi Apostoli‘, dessen Fortsetzung, den ‚Rio di Gesuiti‘, den ‚Rio di santa Caterina‘ sowie dem ‚Rio di san Felice‘ von seinen Carabinieri besetzen lassen. Über den flankierenden Canal Grande führt hier keine Brücke. All seine Carabinieri konnten schwören, dass in der Zeit unmittelbar nach dem Mord niemand über die jeweilige Brücke geflohen war. Der Gesuchte musste also hier und sonst nirgendwo untergetaucht sein.

      Wie er uns trotzdem entwischen konnte, blieb ein Rätsel. Höchstwahrscheinlich, so Marcello, müsse man ihn im Weichbild des beschriebenen Viertels suchen. Für den nächsten Tag ordnete er deswegen eine Haussuchung an, von Wohnblock zu Wohnblock gehend. Dem gütigen Leser (m/w/d) sei im Voraus gesagt, dass diese Maßnahme im Sande verlief, denn für wie dumm hielt der Hauptmann diesen Mörder eigentlich?

      Wir waren mittlerweile in Volpes kleinem Palast angekommen. Er hieß Giovanni seine hellste Stehlampe anzünden und neben den Tisch stellen, über den ein weißes Tuch gebreitet war. Dann holte er sich eine große Lupe, legte das erbeutete Stück Stoff über das Tuch und betrachtete es durch das Glas hindurch, welche es auf wunderbare Weise vergrößerte.

      »Gewiss willst du wissen, mein lieber Doktor«, sagte er bedächtig, »woher dieser seidene Umhang stammt, von der dieser Fetzen da abgerissen wurde.«

      »Natürlich«, sagte ich und starrte durch das Glas, »das könnte uns vielleicht weiter bringen.«

      »Um es kurz zu machen: Der Stoff ist von allererster Qualität, keiner, den man für den Alltag nimmt, Handarbeit, nichts für einen normalen Mann. Ich denke, es ist nicht allzu schwierig herauszufinden, wer der Hersteller ist. Meiner Meinung nach kommt nur die Spezial-Weberei des Claudio Verdi in Frage, die auf solche Luxustextilien spezialisiert ist; vielleicht auch die des Federico Antonini, aber daran glaube ich weniger.«

      »Und was ist mit dem Faden, der da lose heraus hängt?«

      »Er stammt vom umgenähten Saum und ist ebenfalls von bester Qualität, aber leider weit verbreitet. So gut wie jeder renommierte Schneider Venedigs verwendet ihn und Tausend nähbegeisterte Hausfrauen. Nur der Stoff ist für uns interessant:

      Wie du in Vergrößerung deutlich sehen kannst, ist das tief schwarz gefärbte Gewebe in kurzen Abständen von einem feinen grauen Streifen unterbrochen, was ihm etwas Schillerndes verleiht. Das ist ein ziemlich kompliziertes Verfahren, und dafür, das glaube ich, zeichnet einzig und allein die Weberei des Claudio, die erste in Venedig. Nur ihr traue ich ein derart filigranes Gewebe zu. Daher sollten wir Meister Verdi unseren ersten Besuch abstatten. Er kann hoffentlich noch in seinen Datenträgern nachsehen, welche Schneider er damit beliefert hat.

      Die Nacht haben wir uns ohnehin schon um die Ohren gehauen; also los! Nutzen wir Auroras himmlisches Morgenrot, um sehenden Auges dort hin zu eilen. Ich kenne ihn übrigens von einem anderen Fall, den ich nur aufgrund meiner Fachkenntnisse im Gewerbe der Webereien lösen konnte. Bis zu seiner Werkstatt in am ‚Campo santa Maria Formosa‘ sind es nur fünf Minuten. Also lass uns sputen!«

      »Ich liebe diese Piazza«, rief ich, »sie ist so schön wie nur irgendeine in Venedig, aber nicht so überfüllt wie der Markusplatz: an seiner Südseite die 500 Jahre alte Kirche, ein wahres Schmuckstück; rundum Läden und Wirtschaften, einfach köstlich.

      Es gibt da beispielsweise eine kleine Trattoria, in der ich gelegentlich einkehre, um dort zu einem guten Roten grundsätzlich nur ‚Risotto al nero di seppia‘ (Reis mit Tintenfisch) zu speisen, so gut, wie es ihn in ganz Venedig kein zweites Mal gibt. Leider macht sie erst im Laufe des Nachmittags auf.«

      »Du bist mir der Richtige«, sagte Volpe auflachend, »kaum die Colazione im Magen, und schon denkst du an dein Schlemmerlokal, während ich inzwischen sehen kann, wie ich dem Würger von Venedig das Handwerk lege. Machen wir einen Dauerlauf!«

      Von neuer Hoffnung beflügelt, stürmten wir davon und schüttelten uns durch die kühle und frische Luft des gerade eben erwachenden Tages die Müdigkeit aus den Knochen, die uns aus dem trüben Wasser des ‚Rio di S. Giovanni‘ entgegen wehte, als wir die winzige Brücke am ‚Palazzo Bragadin’ überquerten.

      9. Teil: Ein hektisches Intermezzo

      Während wir also durch das erwachende Venedig stürmten, war auf dem Revier bereits einiges im Gange, denn der vierte Mord innerhalb der vierten Nacht hatte sich herumgesprochen.

      Die Vertreter der Zeitungen waren samt sie begleitenden Kameraleuten in das oben beschriebene Atrium gestürmt. Nun warteten sie ungeduldig auf das Erscheinen der Signori Marcello oder di Fusco, die ihnen Rede und Antwort zu stehen hatten, aber eine Zeitlang tat sich nichts.

      Schließlich wagte sich der Tenente aus dem Verschlag hervor. Wüstes Stimmengewirr empfing ihn. Schließlich verstummten die Journalisten und blickten auf Alberto Scimmia, Reporter des Corriere della Sera. Dieser verbeugte sich und räusperte sich feierlich, um dann zu fragen:

      »Tenente di Fusco, ist der Gefangene geflüchtet?«

      »Niemand ist aus unserem Gewahrsam geflohen.