Jürgen Herres

Friedrich Engels


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Londoner Abendzeitung Pall Mall Gazette,92 gestützt auf die offiziellen Telegramme beider Kriegsparteien, die er abwägend und kritisch analysierte.

      Engels, der zeit seines Lebens die naturwissenschaftlichen Fortschritte verfolgte, begann sich seit 1873 eingehend mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen. Er plante ein „naturphilosophisches Werk“, in dem er die gemeinsamen Charakteristika aller Naturwissenschaften seiner Zeit zu einer umfassenden Theorie der Natur kombinieren wollte. Seine fast zweihundert fragmentarischen Textstücke wurden im 20. Jahrhundert unter dem Titel Dialektik der Natur93 zusammengefasst und galten dem Marxismus-Leninismus als grundlegendes philosophisches Werk. Engels selbst war skeptischer. „Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtentheils oder ganz überflüssig“, meinte er 1885.94 Albert Einstein, 1924 um ein Gutachten gebeten, meinte, Engels’ Aufzeichnungen würden immerhin wichtige Einblicke in die Wissenschaftsbegeisterung und Rezeption der damaligen Zeit geben.95

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      Friedrich Engels’ Mitgliedskarte der International Working Men’s Association.

      In der ersten Hälfte der 1870er Jahre verfassten Engels und Marx – teilweise im Auftrag des Generalrats der Internationale – mehrere Anklageschriften gegen den russischen Anarchisten Michail Bakunin. In seiner Publikationsliste nennt Engels nur seine Artikelserie Die Bakunisten an der Arbeit von 1873,96 in der er Rückschläge der sozialistischen Bewegungen nach der Proklamation der spanischen Republik auf dortige Machenschaften Bakunins und seiner Anhänger zurückführte. Die gemeinsam mit Marx verfassten Schriften Les prétendues scissions dans l’Internationale (Die angeblichen Spaltungen in der Internationale) von 187297 und L’Alliance de la Démocratie Socialiste et l’Association Internationale des Travailleurs (Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassociation) von 1873/7498 ließ er jedoch außen vor. Die erste Schrift wurde im März 1872 im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation, dem Engels seit 1870 angehörte, verlesen und in einer Aufl age von zweitausend Exemplaren versandt. Sie ist ein „Sammelsurium von Irrtümern“,99 ohne Verständnis für politische Zusammenhänge und Entwicklungen innerhalb revolutionärer Bewegungen. Die zweite Broschüre war – so der Engels-Biograph Gustav Mayer – „das leidenschaftliche Plädoyer eines von der Richtigkeit seines Standpunktes fest überzeugten Staatsanwalts, der sich kein Argument entgehen läßt, das zur Verurteilung des Angeklagten beitragen kann“.100 Engels’ und Marx’ zufolge scheint es unter der Leitung Bakunins nichts als Intrigen gegeben zu haben.

       „DIE GESCHICHTE HAT UNS … UNRECHT GEGEBEN“ (ENGELS, 1895)

      In seinem letzten größeren veröff entlichten Text, der berühmt gewordenen Einleitung zur Wiederaufl age der Marx’schen Artikelserie Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850 von 1850, äußerte sich der 74-jährige Engels 1895 selbstkritisch über seine und Marx’ politischen Revolutionsvorstellungen von 1848/49. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußt-loser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei“. Stattdessen würden das allgemeine (Männer)Wahlrecht, politische Aufklärung und „parlamentarische Tätigkeit“ ihre „langsame Arbeit“ verrichten.101

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      Christian Ludwig Bokelmann, Die letzten Augenblicke einer Wahlschlacht, 1890. Im Moment unmittelbar vor Betreten des Wahllokals – einige Gebäudeelemente deuten auf das Rathaus in Düsseldorf hin – tritt die Ausrichtung der politischen Parteien in den Erwartungen und Haltungen ihrer Wähler zutage. Das öffentlichem Interesse an der Reichstagswahl 1890 war groß, auch wenn die Stimmen nach dem Klassenwahlrecht unterschiedlich gewichtet waren und Frauen sowie junge Erwachsene selbst kein Stimmrecht hatten.

      Nach Engels’ Tod löste sein Text wütende Auseinandersetzungen aus. Eduard Bernstein, der von Engels (gemeinsam mit August Bebel) zum literarischen Nachlassverwalter bestimmt worden war und den Revisionismusstreit in der deutschen Sozialdemokratie lostrat, sah darin Engels’ „politisches Testament“. Rosa Luxemburg wiederum distanzierte sich auf dem Gründungskongress der KPD Ende Dezember 1918 von Engels’ Ausführungen, die sie „mit dafür verantwortlich“ machte, dass in der Sozialdemokratie eine Politik des „reine[n] Nur-Parlamentarismus“ triumphiert habe. Anlässlich Engels’ 100. Geburtstag 1920 und 30. Todestag 1925 warfen die Sowjetkommunisten der Sozialdemokratie vor, Streichungen an Engels’ Originalmanuskript vorgenommen und so bewusst Marxismusfälschung betrieben zu haben. In den offiziösen Engels-Biographien der DDR und der Sowjetunion wurde Bernstein als „Wortführer dieser Fälschung“ herausgestellt.102

      Tatsächlich hatte Engels selbst in der Druckfassung seines Artikels Weglassungen und Abschwächungen zugestimmt, um der Berliner Regierung keinen zusätzlichen Vorwand für ein geplantes Nachfolgegesetz zum 1890 ausgelaufenen Sozialistengesetz zu liefern. Vertieft man sich in den Text, so wird deutlich, dass seine selbstkritischen Worte keine Lippenbekenntnisse oder temporären taktischen Zugeständnisse waren, sondern ernst gemeint waren.

      Für Engels hatte die Geschichte „uns Unrecht gegeben“ und „unsre damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt“. Sie habe „klar gemacht“, dass „der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent“ 1848 und 1870 „noch bei weitem nicht reif“ gewesen sei „für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“. Erst in jüngster Zeit habe die „ökonomische Revolution“ in ganz Europa die „große Industrie … wirklich eingebürgert“ und ein „wirkliches großindustrielles Proletariat erzeugt“. Aber damit hätten sich „auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen“ habe.103

      Mit seinen ‚revisionierenden‘ Überlegungen versuchte Engels dem Wachstum der Industrie und der Ausdehnung der Städte genauso Rechnung zu tragen wie den militärtechnischen Entwicklungen. Seinen „materialistischen“ Grundüberlegungen treu bleibend, sah er diese Prozesse als Produkte der Wechselwirkung einer Vielzahl von Bedingungen, Entwicklungen und Momenten, letztlich als Folge der sich verändernden Produktivkräfte. Durch diese Entwicklungen habe sich zwar hinsichtlich einer gewaltsamen Auflehnung des Proletariats „alles zugunsten des Militärs“ geändert. Aber das Wachstum der Arbeiterbewegung gehe „so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozess“.104 Dieses Hinüberwachsen in die gesellschaftliche und politische Übermacht sollte nach Möglichkeit nicht durch das Provozieren von Staatsstreichen gefährdet werden. „Was unsere Politik betrifft“, erläuterte er Marx’ Schwiegersohn Paul Lafague im Februar 1895, „so muß sie darin bestehen, uns … nicht provozieren zu lassen; … in zwei bis drei Jahren werden wir die durch die Steuer ruinierten Bauern und Kleinbürger auf unserer Seite haben.“105

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      Heinrich Kley, Teufel beim Stahlguss, um 1910.

      In diesem Zusammenhang ist auch Engels’ zunehmende Sorge zu sehen, das „auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen“ könne einen „Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit“ zur Folge haben, damit „Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre“.106 Krieg hat Engels stets als ein von ökonomischen Gegebenheiten vermitteltes gesellschaftliches Phänomen gesehen und den militärtechnischen Entwicklungen eine große Bedeutung beigemessen, ohne dass es ihm jedoch trotz mehrmaliger Anläufe gelang, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler bemerkte, eine Theorie des Krieges zu entwickeln, die als Parallele zu Marx’ Theorie des Kapitals hätte fungieren können.107 In seinem letzten Lebensjahrzehnt hielt er die Entwicklung der Waffentechnik für vollendet. „[W]ir leben auf einer geladenen Mine“, schrieb er im Januar 1890 August Bebel, „und ein Funke kann sie sprengen.“108 In der Artikelserie Kann