Jürgen Herres

Friedrich Engels


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Abrüstung. Vom „rein militärischen Standpunkt“, versicherte er, stehe „der allmäligen Abschaffung der stehenden Heere absolut nichts im Wege“.109

      Die vorliegende durchaus eigenwillige Diskussion der unsterblichen Werke von Engels, in der nicht nur die von Engels aufgelisteten, sondern auch seine nicht erwähnten Publikationen und Projekte berücksichtigt wurden, zeigt ihn als europäischen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der facettenreicher und vielschichtiger war, als er im 20. Jahrhundert in der Regel dargestellt wurde, aber auch widersprüchlicher. Angesichts einer bis dahin noch nie gesehenen Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft suchte er nach wissenschaftlichen Erklärungen, die zugleich politische Perspektiven eröffnen sollten. Aber die Gefahren politischer Gewaltausübung und revolutionärer Selbstermächtigung wollte er nicht sehen, obwohl er dies aufgrund der Erfahrungen der Französischen Revolution von 1789 sehr wohl gekonnt hätte.

      Wir sollten Engels als Teilnehmer wichtiger Diskussionen über ernste Fragen und große Probleme sehen, als Radikalen des 19. Jahrhunderts, der Globalisierung und Industrialisierung als Voraussetzungen einer menschlichen Selbstbefreiung zu begreifen versuchte. Welche seiner Texte und Manuskripte tatsächlich „unsterblich“ werden, kann jedoch nur die Zukunft erweisen.

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      Weltgeschichte: Die Communisten, 1848.

      BIOGRAPHIE ALS GESCHICHTSPOLITIK

      WILFRIED NIPPEL

      Friedrich Engels hat nach dem Tode von Marx das gemeinsam betriebene „Compagniegeschäft“1 verschiedentlich erläutert. Er habe stets gern die „zweite Violine“ hinter Marx gespielt; wenn er aber auch „in Sachen der Theorie Marx’ Stelle [zu] vertreten“ habe, könne das „nicht ohne Böcke“ gehen, schrieb er in einem Privatbrief.2 In einem publizierten Text hieß es, ihm sei zugefallen, „unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Form […] darzustellen“.3

      Zu Engels’ Geburtstag 1887 schrieb sein „Schüler“ Karl Kautsky in einem Artikel, der mit dem Gefeierten eng abgestimmt war, Marx habe „die gemeinsam gefundene Theorie systematisch für die wissenschaftlich Welt“ ausgearbeitet, Engels sie polemisch gegen Gegner vertreten und auf ihrer Basis „die großen Fragen der Gegenwart […] und die Stellung des Proletariats ihnen gegenüber“ behandelt. Er betonte zugleich, dass Engels mit Anti-Dühring, 1877/78 erschienen, also zu Lebzeiten von Marx, „das grundlegende Werk des modernen Socialismus“ veröff entlicht habe, in dem „die wichtigsten Punkte des gesammten modernen Wissens vom Standpunkte der Marx-Engelsschen mate-rialistischen Dialectik“ behandelt seien.4

      In seinem Nachruf bezeichnete Eduard Bernstein, der andere „Meisterschüler“, Engels als „Träger und Dolmetscher der großen Gesichtspunkte unserer Bewegung“. Die Geschichte werde ihn „den Mitbegründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus“ nennen und ihm die „gebührende Stelle neben Karl Marx anweisen, die er sich bescheiden stets verweigert hat“.5

      Ohne Engels hätte es keinen „Marxismus“ gegeben,6 denn er hat mit der Publikation von Kapital, Band 2 und 3 aus den nachgelassenen Manuskripten von Marx dessen Hauptwerk zum Abschluss gebracht7 und mit den Neuausgaben diverser älterer Schriften ein erstes Corpus Marx’scher Texte konstituiert.8 Er stellte ihnen zugleich historisierende wie aktualisierende Vorworte voran, die dann als authentische Interpretationen die Wirkungsgeschichte entscheidend geprägt haben.9 Engels hat ferner mehrere Monate darauf verwendet, den von dem Nationalökonomen Lujo Brentano nach fast zwanzig Jahren aus durchsichtigen politischen Gründen neu aufgelegten Vorwurf, Marx habe im Kapital ein Zitat verfälscht, in einer Broschüre von 75 Seiten, In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatfälschung. Geschichtserzählung und Dokumente (1891), zu zerpflücken.10

      Ob Engels mit seinen eigenen Schriften „Böcke“ geschossen hat, ob seine Ausdehnung des Geltungsbereichs der Marx’schen Theorie auf tendenziell alle Wissenschaftsgebiete (Anti-Dühring) oder der „materialistischen Geschichtsauffassung“ (ein von Engels geprägter Begriff) auf die gesamte Menschheitsgeschichte (Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884) noch „Marxismus“ oder eher „Engelsismus“ waren, ist eine äußerst schwierige Frage, die hier nicht verfolgt werden kann. Im Folgenden geht es um ein spezifisches Genre, biographische Skizzen, mit denen Engels der Öffentlichkeit ein spezifisches Marx-Bild präsentiert hat, das im 20. Jahrhundert aus bekannten politischen Gründen kanonische Bedeutung bekommen hat. Engels hat sich auch hier in der Doppelrolle als publizistischer Vermittler und „Gegnerbekämpfer“ gezeigt.

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      Louis Kugelmann (1828–1902), Arzt in Hannover, 1868. Friedrich Engels besuchte 1867 Louis Kugelmann, der in seiner Studienzeit in Göttingen 1851/1854 dem Bund der Kommunisten angehört hatte. Kugelmann setzte sich für die Verbreitung des ‚Kapitals‘ ein und stand mit der Familie Marx in Kontakt.

       ÖFFENTLICHKEITSARBEIT

      Nach Erscheinen von Kapital, Band 1, 1867 hat der Marx-Freund und Bewunderer Ludwig (Louis) Kugelmann (im Verein mit Engels’ Verwandtem Carl Siebel) alle möglichen Anstrengungen unternommen, um dem vermeintlichen Totschweigen des Werkes durch Rezensionen in bürgerlichen Blättern zu begegnen. Da dies zunächst nicht gelang, sprang Engels ein. Von ihm verfasste (anonyme) Besprechungen, in denen er sich den Anschein eines bürgerlichen Kritikers gab, konnten in verschiedenen Versionen in neun deutschen Zeitungen untergebracht werden.11 Der Tenor war immer: Marx hat der sozialistischen Bewegung die theoretische Grundlage geliefert, was Vorgängern wie Proudhon oder Lassalle nicht gelungen ist; Marx hat in der Analyse des Kapitalismus geleistet, wozu bürgerliche Ökonomen unfähig sind, damit zugleich der deutschen Wissenschaft auch auf diesem Gebiet den Spitzenplatz beschert.

      In Fortsetzung dieser Kampagne veröffentlichte Engels Mitte 1869 erstmals eine biographische Skizze über Marx, immer noch anonym.12 Dem war eine längere Vorgeschichte vorausgegangen. Im Januar 1868 hatte Kugelmann an Marx geschrieben, ein in Hannover lebender Autor wolle einen Artikel über Marx in einer populären Zeitschrift veröffentlichen. Marx stellte daraufhin eine Notiz mit den wichtigsten Daten zu seinen Lebensstationen und Veröffentlichungen zur Verfügung.13 Geschehen ist zunächst nichts. Im Juli 1868 informierte Kugelmann dann Engels, es gebe eine Chance, einen entsprechenden Text in der Gartenlaube – einer Kulturzeitschrift mit beacht lichem Niveau und sehr hoher Auflage – zu veröffentlichen. Engels übernahm das selbst; seine Autorschaft solle nicht bekannt werden.14 Marx hat Engels’ Text gelesen und ihm noch einige Punkte mitgeteilt, die genannt werden sollten.15 Als dann von der Gartenlaube keine Reaktion kam, wandte Kugelmann sich an eine Konkurrenzzeitschrift, Daheim, die aber vor einer Veröffentlichungszusage den Text prüfen wollte, da man „die Bedeutung des Dr. Marx als Nationalökonom“ nicht einschätzen könne.16 Marx war verärgert, bedauerte, dass er sich auf etwas eingelassen hatte, was unter seiner Würde als Wissenschaftler sei.17

      Kugelmann gab nicht auf. Im Sommer 1869 stellte er eine Verbindung zur linksliberalen Berliner Zeitung Die Zukunft her. Engels revidierte seinen Text vom Vorjahr noch einmal. Er erschien (anonym) am 11. August 1869. Drei Wochen später hat ihn Wilhelm Liebknecht in dem von ihm redigierten Demokratischen Wochenblatt in leicht gekürzter Form nachgedruckt und als „von kompetentester Seite“ stammend vorgestellt.

      Der Artikel mit der Überschrift „Karl Marx“ beginnt mit einem anderen: „Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, in Ferdinand Lassalle den Urheber der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen. Und