Jürgen Herres

Friedrich Engels


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Als Marx Mitte April 1849 einen Kursschwenk machte und zusammen mit Schapper und anderen seinen Austritt aus dem Verbund der demokratischen Vereine erklärte, schloss sich der Kölner Arbeiterverein sofort der Arbeiterverbrüderung an und wollte Delegierte zu deren geplanten (aber nicht mehr zustande gekommenen) Kongress entsenden.81

      Die Arbeiterverbrüderung zählte 1849/50 ca. 15 000–18 000 Mitglieder.82 Der BdK hat nie mehr als ein paar Hundert Mitglieder gehabt.83

      In der Arbeiterverbrüderung waren auch viele BdK-Mitglieder engagiert, die aber keine, von einer Zentrale steuerbare „Kader“ waren, wie Engels suggeriert,84 und in ideologischen und pragmatischen Fragen genau jenen Eklektizismus pflegten, den Engels der Arbeiterverbrüderung insgesamt vorwarf.85 Es sind damals Netzwerke angelegt worden, die Arbeitervereinen ein Überleben auch im Jahrzehnt der Repression seit 1850 ermöglichten, und an die später der ADAV anknüpfen konnte, in dem in der Arbeiterverbrüderung und / oder dem BdK sozialisierte Aktivisten eine wichtige Rolle spielten.

      Was war eigentlich in den Augen von Engels der große politische Fehler von Born – sein selbständiges Agieren?86 Warum Engels sich zu dieser verzerrenden, zudem mit persönlichen Invektiven unterfütterten Darlegung verstiegen hat,87 ist jedenfalls erklärungsbedürftig. Born war für ihn oder Marx seit langem kein Thema mehr,88 und Borns Rolle 1848/49 in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Auf die erste Anfrage von Schlüter hatte Engels geantwortet, er wolle „den alten Lassalleanern“ wieder einmal beweisen, dass in Deutschland „auch vor dem großen Ferdinand schon etwas los war“.89 Dass sich die Aggression im fertigen Text nicht mehr gegen Lassalle, sondern gegen Born richtete, folgte anscheinend daraus, dass Engels in der Zwischenzeit das gerade erschienene Buch von Georg Adler über die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung ca. 1840–1850 erhalten hatte. Für Adler war Born „die bedeutendste Persönlichkeit der Berliner und überhaupt der allgemeinen Arbeiter-Bewegung“ gewesen, ausgezeichnet durch „vorzügliches Redetalent, durch persönlichen Mut, und durch Energie im Handeln“.90 Zusammenfassend hieß es zu Führern der frühen Arbeiterbewegung: „Neben einem schöpferischen Denker allerersten Ranges wie Karl Marx finden wir bedeutsame Talente wie Friedrich Engels, Wilhelm Weitling, Karl Grün und Born“.91 Engels vermutete, Adlers Informationen gingen auf Born selbst zurück, deshalb müsse Born nun Prügel bekommen.92

      Das galt auch für Adler. Engels übergab sein mit Randnotizen versehenes Exemplar von Adlers Buch an Karl Kautsky, der eine Rezension schrieb,93 in der er mit kleinlicher Detailkritik – wie Nennung von Datierungsfehlern,94 die Engels ebenso unterlaufen sind95 – nachweisen wollte, dass Adler keine Ahnung habe. Kautsky verließ sich allein auf Engels’ Notizen und Hinweise,96 wobei (wohl beiden) peinliche Schnitzer unterliefen.97 Kautsky hatte nur insofern recht, als Adler seine Quellen oft unkritisch ausgeschrieben hatte. Aber das von Adler präsentierte Material, das u. a. auf der Auswertung einer Vielzahl weitgehend verschollener Zeitschriften und Dokumente beruhte,98 war für damalige Verhältnisse überwältigend. Wenn sich Engels’ Hoffnung erfüllt hätte, „das von Marx und mir gesammelte reichhaltige Material zur Geschichte jener ruhmvollen Jugendzeit der internationalen Arbeiterbewegung [1836–1852] einmal zu verarbeiten“,99 hätte er gewiss auch auf Adler zurückgreifen müssen.100 Aber Adler hatte sich in den Augen von Engels und Kautsky schon zuvor dadurch „disqualifiziert“, dass er zu jenen gehörte, die Karl Rodbertus für den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hielten.101 Engels’ Attacke auf Born hatte den nichtintendierten Effekt, die in Vergessenheit geratene Arbeiterverbrüderung wieder in Erinnerung zu rufen. Franz Mehring hat dies 1897 getan und die Kritik von Engels an Born stark relativiert,102 was wiederum diesen dazu motivierte, seine Memoiren aufzuschreiben (kurz vor seinem Tod 1898). Diese wurden auch zu einer Quelle für die Jahre von Marx und Engels in Brüssel und Paris – auch mit Fehlinformationen, sei es aufgrund von Gedächtnisfehlern, sei es als „Revanchefouls“.103

       NÜCHTERNE BILANZ – MIT FEHLERN

      Die letzte Skizze über Marx schrieb Engels Ende 1892 für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften auf Anforderung des Herausgebers Ludwig Elster.104 Engels erstellte ein Schriftenverzeichnis105 und schrieb einen insgesamt nüchternen Vorspann.106 Anscheinend hatte er damit gerechnet, dass der Herausgeber daraus nur wenige biographische Daten zusammenstellen werde, so wie es zuvor bei dem Eintrag zu Engels selbst geschehen war.107 Jedenfalls war Engels überrascht, dass sein „ganz in unserem Sinn“ geschriebener Text, abgesehen von der „Auslassung einiger gar zu unbürgerlicher Stellen“ abgedruckt wurde.108 Leider sind die gestrichenen Passagen nicht bekannt.

      Der Text, der auch in der Parteizeitung Vorwärts nachgedruckt wurde und bald darauf in diversen Übersetzungen erschien (aus Anlass des 10. Todestages von Marx, 14. März 1893), enthielt neue Informationen. Zum einen lüftete Engels hier erstmals das bis dahin streng gehütete Geheimnis, dass er als Ghostwriter einen Teil der Artikel von Marx für die New York Tribune in den 1850er Jahren verfasst hatte: „Die militärischen Aufsätze darunter, über den Krimkrieg, die indische Rebellion etc., sind von Engels“.109 Zum anderen teilte er Erkenntnisse auf Grund seiner Arbeit an den hinterlassenen Papieren von Marx mit, nämlich, dass dieser nach Publikation von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) die Unzulänglichkeit dieses Buches erkannt habe und sofort an eine Neubearbeitung statt eine Fortsetzung gegangen sei und dass er im Hinblick auf Band 3 des Kapitals (dessen Erscheinen Engels hier für 1893 ankündigte) umfangreiche Studien zu „Urgeschichte, Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverhältnisse, Geologie“ vorgenommen habe.110

      Die Rolle von Marx als „Begründer“ der IAA wird relativiert: „Viele, namentlich Franzosen, haben sich den Ruhm angemaßt, als Gründer dieser Association zu gelten. Es ist selbstredend, dass so etwas nicht von einem allein gegründet werden kann“. Aber Marx sei der einzige gewesen, „der sich klar war über das, was zu geschehen hatte, und was zu gründen war“.111 Marx habe französische Proudhonisten, deutsche Kommunisten und englische Gewerkschafter zusammenführen können, nur dass diese „Harmonie“ durch die „Anarchisten unter Bakunin“ gestört worden sei. Engels’ Text schloss mit der Feststellung, die meisten der über Marx erschienenen biographischen Arbeiten wimmelten von Irrtümern.112 „Authentisch“ sei allein die von ihm selbst in Brackes Volks-Kalender publizierte Darstellung. Das war ein „Eigentor“, denn sein jetzt vorliegender Text wies evidente Fehler auf: Marx habe 1841 in Berlin promoviert (statt: in Jena in absentia; aber Engels nennt hier das Thema der Dissertation zur antiken Naturphilosophie113); die Rheinische Zeitung sei einer dreifachen (statt: doppelten) Zensur unterworfen worden; ihr Verbot mit Wirkung zum 31. März 1843 sei am 1. Januar 1843 (statt: 20. bzw. 24. Januar) erfolgt und Marx sei an diesem Tag (statt: 17. März) aus der Redaktion ausgeschieden. Engels hatte offensichtlich aus dem Gedächtnis geschrieben114 und seinen eigenen Text von 1877 entweder nicht zur Hand115 oder nicht mehr nachgesehen, in dem jedenfalls die Zensurmaßnahmen gegen die Rheinische Zeitung auf Grund einer Mitteilung von Marx richtig dargestellt worden waren.116

       RESÜMEE

      Engels schrieb die hier diskutierten Texte meistens in kurzer Zeit und verließ sich oft auf sein Gedächtnis, was Fehler im Detail nach sich zog, die dann in späterer Literatur fortgeschleppt worden sind. Er schrieb im Hinblick auf jeweils aktuelle Konstellationen mit dezidierten politischen Intentionen und mit der polemischen Verve gegen alte und neue Gegner, die auch für seine politische Publizistik charakteristisch ist. Wann die Erwähnung, Anreicherung mit oder Weglassung von Details mit gezielten Absichten verbunden oder zufällig war, lässt sich oft nicht feststellen. Das Ziel der Darstellung ist aber immer klar: Marx ist nicht nur der Begründer des „wissenschaftlichen Sozialismus“ (eine Formel von Engels), sondern auch der modernen deutschen wie internationalen Arbeiterbewegung. Seine politischen Entscheidungen, inklusive Gründungen und Auflösungen von Institutionen, entsprachen immer den