die Suche nach den tiefer liegenden Ursachen, die Adler zu den Theorien von Marx und Engels hinführte.
Nach dem Scheitern seiner Bewerbung zum Fabrikinspektor widmete sich Adler mit all seiner Kraft der Zusammenführung der unterschiedlichen Richtungen und der zersplitterten Arbeiterorganisationen zu einer marxistisch orientierten sozialdemokratischen Partei. Als Mittel der Agitation gründete er unter beträchtlichem Einsatz nach dem Tod des Vaters ererbter eigener finanzieller Mittel die Wochenzeitung „Die Gleichheit“, deren erste Nummer im Dezember 1886 erschien.
Seine Agitation zeitigte auch unmittelbare Erfolge, als sich Adler im Dezember 1888 unerkannt in die Ziegelwerke der Wienerberger Gesellschaft am Stadtrand von Wien einschlich und die schrecklichen Zustände in mehreren Artikeln in der „Gleichheit“ eingehend darstellte und anprangerte. Diese Veröffentlichungen führten zu einer Interpellation der demokratischen Abgeordneten Engelbert Pernerstorfer und Ferdinand Kronawetter im Reichsrat, die Auskunft über die gesetzwidrige Untätigkeit der Behörden forderten. Unmittelbar danach erschien der Gewerbeinspektor in der Fabrik. Immerhin wurden in der Folge die Löhne in barem Geld und nicht in Blechmarken ausbezahlt, die nur in betriebseigenen Verkaufsstätten bei überhöhten Preisen eingelöst werden konnten. Andererseits wurde gegen Adlers Helfer mit scharfen Repressions-maßnahmen polizeilich vorgegangen.15
Der Eindruck, den Engels beim Besuch Adlers 1883 von dessen Persönlichkeit empfing, war so positiv, dass er unmittelbar danach an Kautsky schrieb: „Er ist ein Mann, aus dem noch was werden kann.“16 Ein direkter Kontakt resultierte aus diesem Besuch zunächst nicht, jedoch bestand ein indirekter Kontakt über den damals in London lebenden Karl Kautsky, der noch 1886 an Adler berichtete, dass die „Gleichheit“ „Engels sehr gut [gefällt].“17
Adlers Bemühungen um eine Einigung der sozialdemokratischen Bewegung machte vor allem durch Massenversammlungen, bei denen weitgehend einstimmig Resolutionen beschlossen wurden, beträchtliche Fortschritte. Dabei erweckte Adler bei Kautsky Miss-trauen durch eine allzu große Kompromissbereitschaft gegenüber den „Radicalen“. „Ich fürchte“, schrieb Kautsky an Engels, „Adler ist zu sehr von der Sucht besessen, Erfolge zu sehen, die Partei groß zu machen um jeden Preis. Statt die vorhandenen tüchtigen Elemente zu fördern, hat er, um höchst zweifelhafte Elemente zu gewinnen, tüchtige Leute abgestoßen und verbittert.“18
Kautskys Vorbehalte verschwanden jedoch rasch, als er von Adler bei der Vorbereitung des Einigungsparteitags, besonders zur Formulierung des Entwurfs des zunächst nur „Prinzipienerklärung“ genannten Programms beigezogen wurde.19 Auf dem vom 30. Dezember 1888 bis 1. Jänner 1889 in einem Gasthof in Hainfeld, einem kleinen Ort in den niederösterreichischen Voralpen, stattfindenden Parteitag wurde Kautsky von der überwältigenden Mehrheit der Befürworter des Entwurfes zum Pro-Redner bestimmt.
In theoretischer Hinsicht steht diese Prinzipienerklärung der vereinigten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs klar auf dem Boden des Marx’schen Sozialismus. In den Forderungen wird nach jener der Beseitigung aller Vorrechte der Nationen, der Geburt und des Besitzes, und der Freiheit der Organisation und Agitation bereits an dritter Stelle das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts für alle Vertretungskörper genannt, „als eines der wichtigsten Mittel der Agitation und Organisation.“ Adlers Kompromissbereitschaft gegenüber der Radicalen fand darin ihren Ausdruck, dass das allgemeine Wahlrecht angestrebt wird, „ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen.“20 Auch Kautsky akzeptierte dieses Zugeständnis, welches der Erklärung eine nahezu einhellige Zustimmung aller Delegierten sicherte.
Die Neugründung der österreichischen Sozialdemokratie erfolgte nahezu zeitgleich mit jener der sozialistischen Internationale. Die „Zweite Internationale“ konstituierte sich auf ihrem Gründungskongress in Paris im Juli 1889 als internationale Vereinigung der nun in den meisten europäischen Ländern bestehenden nationalen Parteiorganisationen. Als Delegierter der österreichischen Partei nahm Adler am Kongress teil und konnte dort über die namhaften Fortschritte der Bewegung in seinem Land berichten, unter begeisterten Beifallsrufen der Teilnehmer. Bei diesem Kongress traf Adler zum zweiten Mal mit Engels zusammen, und dieser Begegnung entsprang „die innige Freundschaft, die sie bis zu Engels’ Lebensende verknüpfte.“21
FRIEDRICH ENGELS’ FREUNDSCHAFT MIT VICTOR ADLER
Ab dem Jahr 1889 begann ein kontinuierlicher Briefwechsel bis zum Tod von Engels am 5. August 1895.22 Adler entschuldigte sich manchmal für verspätete Antworten wegen seiner großen Arbeitsbelastung mit Parteiarbeit und Parteizeitung. Zeit zu längeren Briefen fand Adler mehrmals während der Verbüßung von Haftstrafen, die ihm die polizeilichen Drangsalierungsmaßnahmen auch noch nach Ende des Sozialistengesetzes einbrachten. Während einer solchen Haft fand Adler die Zeit, den zweiten und den gerade erschienenen dritten Band des Kapital zu lesen. Engels gab ihm dazu eine ausführliche briefl iche Leseanleitung.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Inhalts ist mehr oder weniger privater Natur. Der Arzt Victor Adler gab Engels mehrmals Ratschläge, welche Ärzte er in Wien und in London zur Behandlung seiner Krankheiten konsultieren sollte, und auch vorsichtige Ermahnungen zu einem gesünderen Lebenswandel.
Die Familie Adler spielte auch Vermittler bei der Übersiedlung Luise Kautskys (ab 1894 verehelichte Freyberger) nach ihrer Scheidung von Karl Kautsky nach London, wo sie nach dem Tod von Helene Demuth ab 1891 die Führung von Engels’ Haushalt übernahm.
Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, 2. Bd., Der Cirkulationsprocess des Kapitals. Hrsg. v. Friedrich Engels, Hamburg (Otto Meissner), 1885.
Engels gewährte der österreichischen Partei erhebliche fi nanzielle Unterstützungszahlungen, indem er Honorare für seine Publikationen im deutschen Dietz-Verlag von diesem direkt nach Österreich anweisen ließ. Mit solchen Zahlungen half er auch Victor Adler über eine schwierige persönliche Situation hinwegzukommen, als seine Frau Emma von Depressionen befallen wurde und dringend Kuraufenthalte benötigte. Adler hatte dazu die finanziellen Mittel nicht mehr, da er sein ererbtes Vermögen der Partei zur Verfügung gestellt hatte. Er nahm die Unterstützung an unter der Bedingung, das Geld später an die Partei zurückzuzahlen.
Mehrfach bemühte sich Adler, Engels zu einem Besuch nach Wien zu bewegen. Endlich, 1893 war Engels dazu bereit. Am 15. September sprach Engels in einem überfüllten Saal zu einer großen Arbeiterversammlung im 3. Wiener Gemeindebezirk. Der Einladung Adlers zu einem neuerlichen Wien-Besuch anlässlich des Parteitags 1894 wollte Engels aber nicht nachkommen.
Die tiefe Freundschaft zwischen Engels und Adler erwies sich in Engels’ letztem Lebensjahr. Als Adler, vom Arzt Dr. Freyberger im Vertrauen informiert, von Engels’ rasch um sich greifendem Krebsleiden erfuhr, kündigte er ihm im letzten Brief kurzfristig seinen Besuch in Eastbourne an, um seinen „Rat einzuholen, und zwar ausführlicher als das schriftlich möglich ist.“ Adler blieb an Engels’ Seite, solange er seine Abwesenheit ausdehnen konnte. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Wien traf ein Telegramm ein, dass Friedrich Engels am 5. August gestorben war.23
DIE POLITIK DER ÖSTERREICHISCHEN PARTEI ZU LEBZEITEN VON ENGELS
Wenn Engels große Hoffnungen in die österreichische Sozialdemokratie setzte, so beruhte dies auf seinem großen Vertrauen zu Victor Adler, der unangefochtenen Führungspersönlichkeit der Partei. Adler kam das Verdienst zu, die Partei auf der Grundlage eines marxistischen Programmes geeinigt und die Gegner einer solchen Orientierung entscheidend zurückgedrängt zu haben. An der revolutionären Perspektive einer Überwindung des Kapitalismus festhaltend, stand Adler ebenso konsequent für einen Weg zur Macht, der Engels’ Strategie völlig entsprach und zunächst das Erkämpfen des allgemeinen Wahlrechts als wichtigstes politisches Ziel verfolgte.
Die erste Maifeier