„mit welcher Freude Engels den Aufstieg der österreichischen Partei verfolgte und wie er sich über den wachsenden Respekt freute, den diese dem Bürgertum und der Regierung einflößte.“24
Ein spektakulärer Einstand gelang der gerade ein Jahr alten Partei mit der ersten Maifeier in Österreich 1890. Auf dem Pariser Kongress 1889 wurde beschlossen, am 1. Mai eine Massenkundgebung für die Einführung des achtstündigen Arbeitstags zu organisieren. Ein Meinungsunterschied zeigte sich allerdings in der Frage, ob diese Kundgebung jedenfalls am 1. Mai, auch wenn dieser auf einen Arbeitstag fällt, stattfinden solle (befürwortet von der französischen und der österreichischen Partei), oder am darauffolgenden Sonntag (wofür die Deutschen und die Engländer eintraten). Man einigte sich auf den 1. Mai, allerdings mit einer Ausnahmeklausel. Während die SPD die Kundgebung – nach massiven Drohungen von Unternehmerseite – bei der erstmaligen Durchführung des Beschlusses 1890 auf den darauffolgenden Sonntag verlegte und damit die Franzosen verärgerten, wagte Victor Adler die Arbeiter für den 1. Mai (ein Donnerstag) zu dieser Kundgebung aufzurufen. Und tatsächlich ruhte die Arbeit in den meisten Fabriken Wiens, viele Tausend Arbeiter „spazierten“ im Rahmen einer letztlich trotz der immer noch geltenden Ausnahmegesetze behördlich genehmigten Veranstaltung über die Ringstraße in den Prater. Trotz heftiger Reaktionen und großer Befürchtungen auf bürgerlicher Seite verlief die wohlorganisierte Kundgebung in voller Ruhe. Für Victor Adler war es besonders schmerzlich, dass er an dieser Maifeier nicht teilnehmen konnte, da er gerade eine Haftstrafe absitzen musste.
Für Engels war „die Maifeier des Proletariats … epochemachend durch ihre Allgemeinheit, die sie zur ersten internationalen Tat der kämpfenden Arbeiterklasse machte.“ „Freund und Feind sind sich darüber einig“, schrieb er in einem danach erschienenen Artikel in der Arbeiter-Zeitung25, „dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag am glänzendsten und wür digsten begangen und damit die österreichische, voran die Wiener Arbeiterschaft, sich damit eine ganz andere Stellung in der Bewegung erobert hat.“26 Dabei war Engels’ Position in der internationalen Debatte über den 1. Mai durchaus ambivalent. Im Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen bedauerte er zwar „den schlechten Eindruck, den es überall machen musste, ‚wenn die stärkste Partei der Welt plötzlich zum Rückzug bläst.‘“ Letztlich aber verteidigte er die Entscheidung der SPD, die Maifeier auf den Sonntag (4. Mai 1890) zu verschieben, denn „die ‚Nichtunterbrechung des Siegeslaufs der deutschen Partei ist jetzt die Hauptsache‘, und ‚es ist Unsinn, die Bewegung in allen Ländern einheitlich gestalten zu wollen.‘“27
Victor Adler anlässlich einer 1. Mai Feier im Kreis von Ziegeleiarbeitern am Laaerberg.
Der Kampf um das Wahlrecht
In diesem Sinne war es konsequent, dass Engels Victor Adlers in der österreichischen Partei umstrittenen Kurs in der Auseinandersetzung über das allgemeine Wahlrecht voll unterstützte. Kurz vor seinem Rücktritt hatte der konservative Ministerpräsident Graf Taaffe einen Entwurf für eine Wahlrechtsreform eingebracht, dem zufolge zwei Drittel der Reichsratsabgeordneten in einer dritte Kurie gewählt werden sollte, für die eine deutliche Ausweitung des Stimmrechts für männliche Bürger vorgesehen war.28 Ziel Taaffes war die Stärkung des Reichszusammenhalts, aber auch seine Befürchtung, die österreichischen Arbeiter könnten nach dem Vorbild ihrer belgischen Genossen, die 1893 mit Massenstreikaktionen das allgemeine Wahlrecht erkämpft hatten, zu ebensolchen Aktionen schreiten („belgisch reden“). Der Entwurf wurde vom Reichsrat mit großer Mehrheit abgelehnt. Victor Adler trat allen Bestrebungen, die Taaffe’sche Wahlreform durch außerparlamentarische Aktionen zu unterstützen, entschieden entgegen, was ihm in der Partei und auch von linksliberaler Seite manche Kritik eintrug. Er stoppte sogar eine während seiner Abwesenheit zur Teilnahme am Zürcher Kongress der Internationale von den anderen Vorstandsmitgliedern in Gang gesetzte Kampagne für die Taaffe’sche Vorlage.29 Ausschlaggebend dafür war, wie Adler in einem Bericht an den Parteitag wenig später sagte, dass „wir unmöglich unser Programm einer Augenblickssituation zuliebe aufs Spiel setzen konnten; … einer Regierung zuliebe, welche den Ausnahmezustand in Wien und Prag auf dem Gewissen hat, nicht die Kastanien aus dem Feuer holen (konnten), … womit wir das Proletariat in Missverständnisse geleitet (hätten).“30
Engels versicherte Adler in der Sache seiner vollen Zustimmung, dass es „mit den Torheiten“ (gemeint Massenstreikaktionen) ein Ende habe31. Kautsky schrieb dazu an Engels, dass ohne Adlers Einschreiten „die heißblütigen Österreicher wohl eher eine zweite Auflage des Ausnahmezustands über Wien erreicht hätten.“32 Engels begründete seine zur Zurückhaltung mahnende Position auch damit, dass „der politischer Strike entweder sofort siegen, oder in einer kolossalen Blamage endigen, oder schließlich direkt auf die Barrikaden führen (muss)“, und jedenfalls das Risiko viel zu hoch sei.33
Mit seiner Erwartung einer baldigen Einführung des neuen, breiteren Wahlrechts war Engels allerdings zu optimistisch. Die Wahlrechtsreform von 1897 blieb klar hinter dem Taaffe’schen Entwurf zurück, und die Wahlresultate waren vor allem in Wien, wo die Sozialdemokratie in der allgemeinen Kurie kein einziges Mandat erreichte, enttäuschend. Es dauerte bis zum Jahr 1907, dass der Reichsrat erstmals nach allgemeinem, gleichem Wahlrecht für Männer gewählt wurde. Die Partei errang 87 Mandate (entspricht einem Anteil von 17 %), war jedoch von Anfang an durch ihre ethnische Heterogenität als bloßer Dachverband im Parlament empfindlich geschwächt. 1911 ging die Mandatszahl sogar auf 84 zurück – von einem „Siegeslauf“ wie in Deutschland zu Engels’ Lebzeiten konnte keine Rede sein.
Der Nationalitätenkonflikt 34
Trotz mancher warnender Indizien hielt Engels – und zunächst auch mit ihm Adler – in dieser für die Habsburgermonarchie wie für die österreichische Sozialdemokratie gleichermaßen wichtigen Frage an der von Otto Bauer später so genannten Haltung des „naiven Kosmopolitismus“35 fest: Die nationale Zugehörigkeit wird als „bürgerlicher Vorurteil“ gesehen, das mit dem siegreichen Klassenkampf von selbst verschwindet. In einer Grußadresse an die tschechischen Genossen zu ihrer Maifeier 1893 bekräftigte Engels seine Ansicht, „dass der ganze Nationalitätenhader nur möglich ist unter der Herrschaft der großen grundbesitzenden Feudalherren und der Kapitalisten … und dass, sobald die Arbeiterklasse zur politischen Herrschaft kommt, aller Vorwand zu nationalem Zwist beseitigt ist.“36
Wenn im Hainfelder Parteiprogramm auf das Nationalitätenproblem mit der Aussage, dass die Sozialdemokratische Partei als internationale Partei „die Vorrechte der Nation“ – immerhin an erster Stelle genannt –, „der Geburt“37 etc. verurteile, nur pauschal Bezug genommen hatte, so musste man bald danach erkennen, dass der „naive Kosmopolitismus“ keine tragfähige Grundlage für ein Lösung bot. Kautsky konnte bereits 1896, ein Jahr nach Engels’ Tod, nicht umhin einzugestehen, „dass die alte Marxsche Haltung unhaltbar geworden ist – wie auch seine Haltung gegenüber den Tschechen. Es wäre ganz unmarxistisch, seine Augen den Tatsachen zu verschließen und am alten Marxschen Standpunkt zu beharren.“38
Das Nationalitätenproblem wurde am stärksten virulent in den hochindustrialisierten gemischtsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens, aber auch in den südlichen Kronländern mit slowenischer und italienischer Bevölkerung. Konflikte entstanden insbesondere im Bereich der Gewerkschaften, wo lokale tschechische Gewerkschaften gegen den Zentralismus der von deutschsprachigen Arbeitervertretern kontrollierten Branchenverbände und der zentralen Gewerkschaftskommission aufbegehrten. Für die tschechischen Sozialdemokraten war „das Streben nach Aufrechterhaltung einer einheitlichen Bewegung nicht immer nur Ausdruck des Internationalismus, sondern kann auch den Tendenzen eines bestimmten Großmachtnationalismus dienen.“39
Karl Kautsky (1854–1938), um 1915/1920.