Jürgen Herres

Friedrich Engels


Скачать книгу

Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein.“4 Als beispielhaft galt Engels die deutsche Sozialdemokratie „als die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei“, die den Schwesterparteien in andern Ländern zeigte, „wie man das allgemeine Wahlrecht gebraucht.“5 Engels extrapolierte die Zunahme des Stimmen- und Mandatsanteils der SPD bei den Reichstagswahlen, der bis 1894 auf ein Viertel angestiegen war, in die Zukunft und sah die Erlangung der parlamentarischen Mehrheit nicht mehr in weiter Ferne, sondern durchaus in Reichweite gerückt. Die stetige Steigerung des Stimmenanteils ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Mittel dazu, das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft zu stärken, damit die Kampfkraft zu steigern, immer gerichtet auf das näher rückende Endziel der sozialistischen Gesellschaftsordnung.

      Als kontraproduktiv verfiel daher jede Form des „anarchistischen“ Terrors dem strikten Verdikt von Engels. Attentate, Verschwörungen böten nur der Bourgeoisie einen Anlass für Polizeimaßnahmen oder sogar für putschartiges Vorgehen.6 Engels warnte besonders davor, im Kampf um die Eroberung der Macht auf gewaltsame Rebellion und Straßenkampf zu setzen. Wenn ihm „die Rebellion alten Stils“ schon 1848 veraltet erschien, so waren durch die Weiterentwicklung der Waffentechnik und der Militärlogistik seither „auf Seiten des Insurgenten alle Bedingungen schlechter geworden“. Daher sollte sich das Proletariat nicht von der um seine Herrschaft fürchtenden Bourgeoisie provozieren lassen, sich „auf die Straße begeben, wo wir der Niederlage im Voraus gewiss sind.“7

      In den parlamentarischen Auseinandersetzungen über einzelne Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollten die Sozialdemokraten im Parlament alle Maßnahmen unterstützen oder nicht behindern, welche die Liquidierung feudaler Strukturen und die Verminderung der selbstständigen kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Bevölkerungsschichten beschleunigen, wie z. B. Abschaffung von agrarischen Schutzzöllen. Je schneller sich der Kapitalismus zu seiner reinen Form entwickelt, umso rascher steigt der Bevölkerungsanteil des Proletariats, und damit die politische Machtbasis der Sozialdemokratie. Energisch widersprach Engels allen reformistischen und „staatssozialistischen“ Tendenzen in der SPD.

      Als auslösender Faktor für eine Machtübernahme des Proletariats spielt die zunehmende Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft eine wichtige Rolle. Marx unterstellte als „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“8 periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen mit einer Tendenz zur Verschärfung. Mit zunehmender Kapitalakkumulation bekommen immer breitere Bevölkerungsschichten und immer mehr Länder ihre Folgen zu spüren, es kommt zu einer wachsenden Polarisierung zwischen Macht und Reichtum auf Seiten des Kapitals und Elend und Unsicherheit auf Seiten der Arbeiter, es „wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.“ Angetrieben wird dieser Prozess durch den tendenziellen Fall der Profitrate. Große Teile des dritten Bandes des Kapital sind dem Nachweis eines „Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate gewidmet, ohne dass Marx diesen Beweis erbringen konnte.“9

      Bei Engels erscheint die These von der Verschärfung der periodisch wiederkehrenden Krisen nur mehr in abgeschwächter Form im Anti-Dühring (erstmals erschienen 1878).10 Im Abstand von etwa zehn Jahren wird immer wieder der Punkt erreicht, an dem „der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Masse von Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln. … Aber der Überfluss wird Quelle der Not und des Mangels.“ Während diese Situation bei Marx als revolutionär dargestellt wird, ohne allerdings dort das Wort Revolution zu verwenden, decken bei Engels „die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur ferneren Verwaltung der Produktivkräfte auf“. Immer mehr übernimmt die Kapitalgesellschaft die Funktion des privaten Eigentümers, eine Form, die vom Staat geschaffen ist, der immer mehr Funktionen als Organisator der kapitalistischen Wirtschaft übernimmt und dadurch zum „ideellen Gesamtkapitalisten“ wird. Hier ist der Punkt, wo das Proletariat die Staatsgewalt ergreift.

      Engels hatte wenig Interesse an analytischtheoretischen Fragen des Akkumulationsprozesses und des Krisenmechanismus, mit denen sich Marx mit großer Intensität in den von Engels nach dessen Tod herausgegebenen Bänden des Kapital auseinandersetzte. Engels ging es mehr um die politisch-strategische Frage der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat.

       KURZE GESCHICHTE DER SOZIALISTISCHEN BEWEGUNG IN ÖSTERREICH BIS ZUM EINIGUNGSPARTEITAG 1888/89

      In Österreich erfolgten die ersten Initiativen zur Gründung einer sozialdemokratischen Parteiorganisation nur wenig später als in Deutschland. Nach 1867 bildeten sich in rascher Folge Arbeiterbildungsvereine. Die Repression setzte in Österreich deutlich früher ein als in Deutschland durch Bismarcks Sozialistengesetz 1878. Nach einer Massendemonstration im Dezember 1869 wurden die führenden Funktionäre eingekerkert und die Arbeiterbildungsvereine verboten, ein vernichtender Schlag, der die Bewegung gegenüber der deutschen um zwanzig Jahre zurückwarf. Während in Deutschland die zwei unterschiedlichen Strömungen der Lassalleaner und Eisenacher am Gothaer Parteitag 1875 zusammenfanden und als Partei im Parlament geschlossen auftraten, kam es in Österreich zu heftigen Richtungskämpfen der versprengten Reste, einem Kampf zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“. In dieser verfahrenen Situation trat Victor Adler 1886 in die sozialdemokratische Bewegung ein und widmete sich mit aller persönlichen Energie der Überwindung der Richtungskämpfe. Tatsächlich gelang es Adler, in kaum drei Jahren die widerstreitenden Flügel auf dem Einigungsparteitag an der Jahreswende 1888/89 („Hainfelder Parteitag“) auf der Grundlage des neuen, nahezu einstimmig beschlossenen „Hainfelder Programmes“ zusammenzuführen.

      Victor Adler (1852–1918)11 stammte aus einer ursprünglich in Prag ansässigen bürgerlichen jüdischen Familie. Nach der Übersiedlung nach Wien Mitte der 50er Jahre erwarb Adlers Vater mit Immobilien- und Geldgeschäften ein beträchtliches Vermögen. Victor verbrachte seine Kindheit und Schulzeit bereits in der Hauptstadt. An der Universität schloss er sein Studium der Medizin 1876 ab und bildete sich in der Psychiatrie weiter. Danach etablierte er sich als Psychiater und Nervenarzt, seine Ordination befand sich zuletzt an der Adresse Berggasse 19.12 Seine Wahl der Spezialisierung im medizinischen Fach deutet darauf hin, dass Adler stark an den sozialen Aufgaben seines Berufs interessiert war.

      Adler engagierte sich politisch zuerst in der liberalen Partei der „Deutsch-Fortschrittli-chen“. In Kontakt zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kam Adler erstmals 1881 durch Vermittlung des ebenfalls aus Prag stammenden Karl Kautsky, der jedoch angesichts des desolaten Zustands der österreichischen Parteiorganisation sein Betätigungsfeld nach Deutschland und in die Schweiz verlagert hatte. Kautsky, der mit Engels seit 1881 in Kontakt stand, war es auch, der Adlers Besuch bei Engels avisierte. „Er ist zwar kein direkter Parteigenosse, aber ein uns sehr nahestehender und, soweit ich ihn kenne – auch ehrlicher Philanthrop“13.

      1883 wurde in Österreich eine Gewerbeinspektion („Fabrikinspektion“) eingeführt, mit der Aufgabe, die Einhaltung von vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen gegen Arbeitsunfälle, die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter, die Einhaltung der Arbeitszeit, Form der Lohnauszahlung in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten zu überprüfen. Adler bewarb sich sogleich um die Position eines Fabrikinspektors und unternahm zur Vorbereitung eine Studienreise nach England, Deutschland und in die Schweiz, deren Erkenntnisse er in einer umfangreichen Abhandlung zusammenfasste.14 Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung war, dass die Wirksamkeit dieser Institution durch Defizite bei der Umsetzung der Bestimmungen erheblich gemindert wurde, was vor allem durch die unzureichende personelle Ausstattung und mangelnde Sanktionen bei den häufig festgestellten Rechtsverletzungen bedingt war. Die realen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse waren stärker als die ohnehin bescheidenen Ansätze zu sozialreformerischen Maßnahmen.

      Für Adlers Hinwendung zum marxistischen Sozialismus war nicht die Philosophie oder die politische Ökonomie der englischen Klassiker der Ausgangspunkt, sondern seine schonungslose Analyse der