Jürgen Herres

Friedrich Engels


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Gründer der IAA vorzustellen, formuliert aber so geschickt, dass dies zwar suggeriert, aber nicht evident tatsachenwidrig behauptet wird. „Die Gründung einer die fortgeschrittensten Länder Europa’s und Amerika’s umfassenden Arbeiter-Assoziation, die den internationalen Charakter der sozialistischen Bewegung […] sozusagen leiblich vorführen sollte“, sei der „langgehegte Wunsch“ von Marx gewesen, der auf der Londoner Gründungsversammlung am 28. September 1864 mit Begeisterung aufgenommen worden sei.36 Dass die Initiative dazu von französischen und englischen Vereinen und Gewerkschaften ausgegangen (erstmals 1862) und Marx erst verspätet zur Gründungsversammlung eingeladen worden war und dort auch nicht gesprochen hatte, wird großzügig übergangen. Dass Marx die „Seele“ des Generalrats gewesen sei, weil er alle wichtigen Dokumente verfasst habe, ist leicht, dass dessen Aktivität in der IAA mit der „Geschichte dieser Association selbst“ identisch sei, deutlich übertrieben.37 Engels rechtfertigt die – „damals und seitdem oft getadelten“ – Entscheidungen des Haager Kongresses der IAA (Anfang September 1872), die auf einen „heroischen Entschluß“ von Marx zurückgingen, nämlich erstens den Generalrat nach New York zu verlegen und zweitens die Bakunisten auszuschließen.38 Angesichts der Repressionen nach dem Ende der Pariser Kommune, die sich wegen putschistischer Aktivitäten der Bakunisten noch gesteigert hätten, sei dies die einzige Möglichkeit gewesen, unnötige Opfer zu vermeiden und die internationale Solidarität des Proletariats auch ohne eine, durch die Zeitumstände obsolet gewordene Organisationsform zu erhalten. Dass Engels hier nicht auf die dubiosen Methoden eingeht, mit der Marx und er selbst diese Entscheidungen herbeigeführt hatten, kann nicht überraschen. Neu war in dieser Skizze, dass Engels die „Entdeckungen“ würdigte, „mit denen Marx seinen Namen in die Geschichte der Wissenschaft eingeschrieben“ und den „modernen wissenschaftlichen Sozialismus“ begründet habe. Er charakterisierte zum einen die von Marx „vollzogene Umwälzung in der gesammten Auffassung der Weltgeschichte“, d. h. das Verständnis der Weltgeschichte als einer Abfolge von Klassenkämpfen, und zum anderen, dass Marx als erster erklärt habe, wie im Kapitalismus die Ausbeutung auf der Abschöpfung des Mehrwerts der vom Arbeiter verkauften Arbeitskraft basiere.39 Diese Ausführungen berühren sich eng mit den Darstellungen der Marx’schen Lehre, die Engels im Anti-Dühring geboten hat, eine Artikelfolge, an der er damals gerade arbeitete. Die Veröffentlichung im Volks-Kalender war höchst wirkungsvoll; zum einen, weil dies ein populäres Medium war; im Oktober 1877 konnte Bracke schon den Absatz von 20 000 Exemplaren melden; zum anderen lag dies in der Langzeitwirkung begründet. Viele Nachrufe auf Marx 1883 stützten sich auf Engels’ Text; das galt ungeachtet der Anreicherungen durch eigene Erinnerungen auch für die Würdigungen durch Marx’ Tochter Eleanor, den Schwiegersohn Paul Lafargue und Weggefährten wie Wilhelm Liebknecht und Friedrich Leßner. Da sich schließlich noch Lenin auf diesen Text von Engels stützte, hat er in der späteren Marx-Orthodoxie kanonischen Status bekommen.40

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      Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), um 1863.

      In seiner Grabrede für Marx, die in der (in der Schweiz verlegten, illegal nach Deutschland vertriebenen) Parteizeitung Der Sozialdemokrat am 22. März 1883 abgedruckt wurde,41 hat Engels die Doppelrolle von Marx als Wissenschaftler und Revolutionär betont, wobei er das von Marx „entdeckte […] Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ mit Darwins „Gesetz der Entwicklung der organischen Natur“ auf die gleiche Stufe stellte.42 In einem am 3. Mai an gleicher Stelle publizierten Beitrag schilderte er, um in der Presse kursierenden Fehlmeldungen entgegenzutreten, die letzten, von Krankheit gezeichneten Lebensmonate von Marx und die Umstände seines Todes.43 Zum Schluss vermeldete er, das Manuskript von Kapital, Band 2, sei vollständig erhalten, wenngleich er dessen Druckreife noch nicht beurteilen könne. Weiter teilte er mit, Marx habe durch „mündliche Verfügung […] seine jüngste Tochter Eleanor und mich [Engels] zu seinen literarischen Exekutoren ernannt“.44

      In einer Fortsetzung (17. Mai 1883) ging Engels zur Attacke auf diejenigen „kleinen Leute“ über, die aus dem „Tod eines großen Mannes […] politisches, literarisches und baares Kapital“ herausschlagen wollten.45 Das richtet sich zum einen gegen Johann Most, ein zum gewaltbereiten Anarchismus konvertierter ehemaliger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, der auf einer Gedenkfeier für Marx in New York für sich reklamiert hatte, das Kapital durch eine Kurzfassung populär gemacht zu haben.46 Zum anderen griff Engels den jungen italienischen Wissenschaftler Achille Loria an, der Marx nicht nur Zitatverfälschungen vorgeworfen, sondern auch unterstellt hatte, dass dieser nie vorgehabt habe, das Kapital fortzusetzen.

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      Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924), Juli 1920.

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      Johann Most (1846–1906), 1886.

       ERINNERUNGEN AN DIE 48ER REVOLUTION IN ZEITEN DES SOZIALISTENGESETZES

      Engels wollte eine Marx-Biographie oder eine Geschichte der IAA schreiben – beides gehörte für ihn insofern zusammen, als er die Tätigkeit in der IAA als Höhepunkt von Marx’ politischer Wirksamkeit betrachtete, und zudem er der einzige sei, der aufgrund eigener Kenntnis die grassierenden Verleumdungen widerlegen könne.47 Dazu ist Engels nicht gekommen; er hat nur 1884/85 Texte veröffentlicht, die sich auf Marx während der Revolution 1848/49 konzentrieren. Sie entstanden im Kontext einer publizistischen Offensive der Wochenzeitung Sozialdemokrat unter der Redaktion von Bernstein, der mit Engels in stetigem Briefkontakt stand, und des ebenfalls in der Schweiz gegründeten Verlags, der Volksbuchhandlung in Hottingen (bei Zürich) unter Leitung von Hermann Schlüter. Man wollte zum ausdauernden Widerstand gegen das Sozialistengesetz mobilisieren, richtete sich damit auch gegen diejenigen Teile der Partei48 und namentlich der Reichstagsfraktion, die angesichts des Verfolgungsdrucks zu Konzessionen an die Regierung bereit waren.

      Bernstein hat zum 1. Todestag von Marx (14. März 1884) bei Engels einen Artikel über „Marx und die Revolution“ erbeten und als mögliche Schwerpunkte 1848 oder die Pariser Kommune 1871 genannt. Engels entschied sich für die erste Variante, schrieb über „Marx und die ‚Neue Rheinische Zeitung 1848–49‘“,49 vermutlich weil es ihm darum ging, das Beispiel einer kämpferischen Zeitung vorzuführen. Engels gibt einige Informationen zur Geschichte der Zeitung: die handstreichartige Übernahme durch Marx, die Probleme mit den Aktionären, von denen viele wegen der Radikalität des Blattes wieder abgesprungen waren, die Auflagenhöhen, die autoritäre Führung durch Marx („die Verfassung der Redaktion war die einfache Diktatur von Marx“50), die als Notwendigkeit für eine Tageszeitung von allen Beteiligten akzeptiert worden sei. Ausführlich wird auch dargelegt, welchen Schutz für die Pressefreiheit das im Rheinland noch geltende französische Recht geboten habe.51 Abenteuerlich klingt, in der Festungsstadt Köln „mit einer Garnison von 8000 Mann“ habe das Militär „wegen der acht Bajonettgewehre und 250 scharfen Pistolen im Redaktionszimmer und der rothen Jakobinermützen der Setzer“ keinen Handstreich gegen diese „Festung“ unternehmen wollen.52 Die große Zeitung mit Anspruch auf Wirkung in Deutschland habe die äußerste Linke der demokratischen Bewegung repräsentiert, sei kein „kleines Winkelblättchen“ zur Verkündigung des Kommunismus gewesen.53 Ihr Programm habe aus zwei „Hauptpunkten“ bestanden: „Einige, untheilbare, demokratische, deutsche Republik und Krieg mit Rußland, der Wiederherstellung Polens einschloß“.54 Ersteres erforderte die Bekämpfung des „parlamentarischen Kretinismus“55 der Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin (wobei man von der deutschen von Anfang an nichts erwartet habe, die preußische aber besonders deren linken Flügel, da nicht radikal genug, kritisiert habe); letzteres die Propagierung eines revolutionären Krieges, ohne den es keine Zerschlagung des Habsburgerreiches und Preußens geben konnte. Das ist eine konzise Zusammenfassung der von Marx und Engels in ihren Leitartikeln verfolgten