Jürgen Herres

Friedrich Engels


Скачать книгу

rel="nofollow" href="#fb3_img_img_5694877a-e883-526a-a5e4-b3a661f4fd73.jpg" alt="image"/>

      Pjotr Beloussow, Lenin mit Delegierten des III. Komsomol-Kongresses 1920, 1949.

      Engels beanspruchte nicht nur das Deutungsmonopol über Marx, sondern auch über die Geschichte der sozialistischen Bewegung, wie sich auch in verschiedenen Gedenkartikeln und Nachrufen auf zeitweilige Weggefährten von Marx und Engels zeigt, die jeweils ein selektives Bild zeichnen, pointierte Einschätzungen liefern und frühere Differenzen zugunsten einer Vereinnahmungsstrategie weglassen.117 Die von Engels wiederholt beklagte Unkenntnis der jüngeren Generation über die frühe Arbeiterbewegung hatte im Zeitpunkt der Publikation seiner Texte den Vorteil, dass es kaum jemand gab, der seine Aussagen kontrollieren konnte, obwohl er vieles gar nicht als Zeitzeuge (der aber bekanntlich nicht für Authentizität bürgt) erlebt hatte, und über vieles auch nicht informiert sein konnte.118 Aber Engels hat auch alte Sozialisten aufgefordert, ihre Erinnerungen aufzuschreiben beziehungsweise die in ihrem Besitz befindlichen Materialien für die Nachwelt zu sichern.119 Das hatte dann auf (sehr) lange Sicht auch den Effekt, dass die Deutungshoheit von Engels gebrochen werden konnte.

      Seine Verfügung, dass sein Briefwechsel mit Marx veröffentlicht werde, hat bewirkt, dass vieles bekannt wurde, was seinem „offiziellen“ Marx-Bild widersprach. Als nach jahrelangen persönlichen und politischen Querelen ab 1910 dieser, Bernstein und Bebel vermachte Briefwechsel erschlossen wurde, waren alle, die ihn erstmals lesen konnten, entsetzt über die vulgäre Sprache, die maßlosen Attacken auf „Parteifreunde“ (Liebknecht; Lassalle), die verstörenden Einblicke in die Schmutzkampagnen im Emigrantenmilieu, von denen sich Marx mitnichten ferngehalten hatte, so dass Überlegungen aufkamen, auf eine Publikation lieber zu verzichten. Schließlich entschied man sich für eine „gesäuberte“ Ausgabe (erschienen 1913).120 Entscheidend waren letztlich die Marx-Engels-Gesamtausgaben, namentlich die „neue MEGA“ (seit 1975), in die auch die Briefe an Marx und Engels aufgenommen wurden, die vor allem durch das von Engels in seiner Zeit in Manchester gepflegte „Parteiarchiv“121 erhalten sind. Solange diese Edition unter der Ägide der Parteiinstitute in Moskau und Ostberlin stand, wurden zwar in den Einleitungen die Urteile von Engels (und Marx) reproduziert, zumal wenn sie von Lenin approbiert worden waren, aber auch schon in den Sachapparaten der Bände vor 1990 war, wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit, das subversive Potential der Quellen erkennbar.122

image

      Viktor Adler (1852–1918), Arzt und sozialdemokratischer Politiker, um 1910. Nach dem Studium der Chemie und Medizin in Wien war er als Armen- und Nervenarzt tätig. Als Gründer und Redakteur der ‚Gleichheit‘ und der ‚Arbeiter-Zeitung‘ wurde er zur zentralen Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie. Mit seiner liberalen und gemäßigten Haltung stellte er in menschlich gewinnender Art den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Parteiflügeln her. Als „Hofrat der Nation“ war er Anfang November als Staatssekretär des Äußeren der ersten Regierung der Republik Österreich nominiert, deren offizielle Proklamation am 12. November 1918 er aber nicht mehr erlebte.

      GÜNTHER CHALOUPEK

       ENGELS UND DIE EUROPÄISCHE SOZIALDEMOKRATIE

      In den zwölf Jahren, um die er Karl Marx überlebte, sah Friedrich Engels seine Rolle als Hüter und authentischer Interpret von Marx’s theoretischem und politischem Vermächtnis. Neben der Herausgabe der unpublizierten Teile des Kapital besorgte Engels die Wiederveröffentlichung älterer Marx’scher und eigener Schriften, die er mit neuen Vorworten versah, in denen er die seit ihrem ersten Erscheinen eingetretenen Veränderungen und auch in der Folge offenkundig gewordenen Fehleinschätzungen kommentierte.

      Diese Zeit war gleichzeitig eine Periode des kräftigen Wachstums sozialdemokratischer Parteien auf dem europäischen Kontinent. Während die erste Organisation der sozialistischen Bewegung in Form der ersten Internationalen Arbeiterassoziation 1876 gescheitert war, konstituierte sich die Bewegung neu in Form von nationalstaatlich organisierten Arbeiterparteien, die dadurch zum politischen Machtfaktor und vom Bürgertum zunehmend als Bedrohung empfunden wurden.

      Engels’ Bedeutung für das Wachstum der europäischen Sozialdemokratie in dieser Zeit ist kaum zu überschätzen. Er unterhielt eine umfangreiche Korrespondenz mit Funktionären der Parteien in fast allen Ländern Europas, von denen er viele auch zu Besuchen in seinem Heim in London empfing. Stärker involviert wurde er – von England abgesehen, das zu seiner Enttäuschung im Aufbau einer marxistisch orientierten Arbeiterpartei lange Zeit hinter dem Kontinent zurückgeblieben war – in die Angelegenheiten der französischen Sozialisten und der deutschen Sozialdemokraten. Allzu nachdrückliche Interventionen vermeidend, versuchte er doch, die Parteien auf den seiner Ansicht nach richtigen Kurs zu bringen. Dabei war es unvermeidlich, dass er auch in Konflikte zwischen den Parteien (v. a. Frankreichs und Deutschlands) und innerhalb der Parteien hineingezogen wurde. Besonders in Deutschland griff er immer wieder in innerparteiliche Diskussionen der Parteiführung mit reformistischen „Abweichlern“ ein.

      Der österreichischen Sozialdemokratie hat Engels erst relativ spät seine Aufmerksamkeit zugewendet. Es ist anzunehmen, dass er von seinem engsten politischen Mitkämpfer Karl Kautsky, der aus Österreich stammte und in der Zeit der inneren Zerrissenheit der Bewegung vor dem Einigungsparteitag 1888/89 sich dort aktiv betätigt hatte, über die Verhältnisse informiert worden ist. Ein intensiver Kontakt entstand nach der Neugründung durch Victor Adler, den Engels bald außerordentlich schätzen lernte, und mit dem ihn eine tiefe, gleichermaßen politische wie persönliche Freundschaft verband. Engels nahm an der raschen Entwicklung der Partei intensiv Anteil, darüber hinaus ließ er der Partei und ihrem Vorsitzenden manche finanzielle Unterstützung zukommen. Das Verhältnis blieb bis zum Schluss frei von jeder Trübung, weil Engels volles Vertrauen zur Parteiführung hatte und er die Partei auf dem richtigen „Weg zum Sozialismus“ sah.

       DER WEG ZUM SOZIALISMUS

      Im Verständnis des „wissenschaftlichen“ – im Gegensatz zum „utopischen“ – Sozialismus ist die Überwindung des Kapitalismus eine Folge von dessen inhärenter Entwicklung, die als langfristiger, sich mit unwiderstehlicher Notwendigkeit vollziehender Prozess gesehen wird. Der progressiven Entfaltung der Produktivkräfte entspringen innere Widersprüche im Kapitalismus, die „nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nach tatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als Produktivkräfte [drängen]“1. Die gesellschaftlich-politische Kraft, welche diese Transformation vollzieht, ist das Proletariat, welches als Folge der kapitalistischen Entwicklung zur Bevölkerungsmajorität und als organisierte politische Bewegung in die Lage versetzt wird, die Macht im kapitalistischen Staat zu übernehmen. Ob die Machtübernahme durch demokratische Willensbildung oder im Zuge einer finalen „Krise“ vonstatten geht, bleibt dabei offen.

      Das Kommunistische Manifest spricht davon, dass „der erste Schritt in der Arbeiter-revolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“2 Das weitgehende Scheitern der bürgerlichen 1848er Revolution brachte zunächst einen Rückschlag bei diesem Bestreben. Mit der zunehmenden Verbreitung des allgemeinen Wahlrechts für die männliche Bevölkerung bzw. dessen Ausdehnung auf größere Bevölkerungskreise eröffnete sich für die sozialdemokratischen Parteien eine erfolgversprechende Perspektive, in einem Zeitraum von einigen Generationen die Macht im Staat zu übernehmen, und bereits auf dem Weg dahin Kernforderungen wie die Einführung des Achtstundentages durchzusetzen. Darauf konzentrierten sich die polit-strategischen Überlegungen von Friedrich Engels, auf denen seine Empfehlungen an die sozialdemokratischen Parteien basierten.

      Nicht „mit einem Schlag“ können die Sozialisten den Sieg erringen, sondern nur „in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen.“3