Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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      »Nein, ich döse nur ein bißchen vor mich hin. Wir sind bald da, nicht?«

      »Ja«, sagte er und raste mit Vollgas in die Kurve, so daß sie an die Beifahrertür gedrückt wurde.

      Sie biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts. Nicht mehr lange, und sie hatte es überstanden. Auf der Rückfahrt jedenfalls, das stand fest, würde sie fahren.

      *

      »Ein richtiges Sauwetter ist das!« schimpfte Dr. Bernd Schäfer, als er die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin betrat und seinen riesigen Schirm so ausschüttelte, daß die Regentropfen nach allen Seiten flogen.

      »Paß mal ein bißchen auf, Bernd!« Dr. Adrian Winter, der gleich nach dem gewichtigen Assistenzarzt hereingekommen war, sprang in letzter Sekunde zur Seite. »Ich bin halbwegs trocken hier hereingekommen, nun will ich nicht ausgerechnet in der Notaufnahme naß werden!«

      »Entschuldige, Adrian. Ich hab’ dich nicht gesehen.«

      »Das wäre ja auch noch schöner, wenn du es absichtlich getan hättest!« Adrian Winter eilte an seinem Kollegen vorbei, denn das Wartezimmer war voll, wie er sofort gesehen hatte. Das hatte bestimmt etwas mit dem Wetter zu tun – da häuften sich natürlich die Unfälle. Oft war es zu Beginn eines Nachtdienstes eher ruhig, aber heute würde es wohl anders sein.

      Dr. Adrian Winter war Unfallchirurg, und seit einiger Zeit leitete er die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Er tat es voller Engagement, wie er überhaupt alles, was mit seinem Beruf zusammenhing, mit Leib und Seele tat. Er war ein großer, gutaussehender Mann von fünfunddreißig Jahren. Seine dunkelblonden Haare waren ziemlich kurz geschnitten, die braunen Augen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Er ließ sich nur selten aus der Ruhe bringen und war zu den Patientinnen und Patienten gleichbleibend freundlich. Außerdem genoß er als Mediziner einen ausgezeichneten Ruf. Es war also kein Wunder, daß er einer der beliebtesten Ärzte der Klinik war.

      »Adrian, gut, daß du da bist!« begrüßte ihn Oberschwester Walli erleichtert. »Das wird eine heiße Nacht, glaube ich.«

      »Ja, den Eindruck habe ich auch. Laß mich mal sehen, was haben wir denn da?«

      Sie reichte ihm die Liste, und er überflog sie rasch. »Was ist mit den Herzrhythmusstörungen?«

      »Ein alter Mann, sechsundachtzig. Er ist jetzt stabil und wird gerade nach oben gebracht, da können sie sich besser um ihn kümmern. Aber komm bitte mit und sieh dir ein junges Mädchen an, das man bewußtlos am Bahnhof gefunden hat.«

      Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Drogen oder Alkohol?«

      »Eher Drogen, würde ich sagen«, antwortete die mollige Oberschwester mit dem braunen Pagenkopf. Ihr hübsches Gesicht wirkte bekümmert. »Sie ist höchstens fünfzehn, Adrian, und ich weiß nicht, ob wir ihr helfen können. Sie sieht entsetzlich aus.«

      »Ich schau sie mir gleich an«, sagte er und folgte ihr. Drogenkranke gehörten seit langem zum Alltag einer Notaufnahme, aber man hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.

      *

      »Aufgeregt?« fragte Mona Mickwitz ihren Bruder Wolf, der am Fenster ihres Wohnzimmers stand und auf die Straße sah.

      Er drehte sich um und machte ein ausdrucksloses Gesicht. »Aufgeregt?« fragte er betont gleichmütig. »Warum sollte ich aufgeregt sein?«

      »Nur so«, antwortete sie und unterdrückte ein Lächeln. Ihr konnte er nichts vormachen, so sehr er sich auch bemühte. Sie wußte schließlich, daß ihr Bruder zumindest früher unsterblich in ihre beste Freundin Bettina verliebt gewesen war – aber Bettina hatte seine Gefühle nicht erwidert, und irgendwann war Wolf dann als Ingenieur ins Ausland gegangen.

      Sie hatte keine Ahnung, ob er dort eine Freundin hatte, aber sie nahm an, daß er es ihr erzählt hätte, wenn es so gewesen wäre. Jedenfalls glaubte sie ihm keine Sekunde, daß das bevorstehende Wiedersehen mit Bettina ihn völlig kalt ließ – so lange war es schließlich noch nicht her, daß er fast krank gewesen war vor lauter Liebeskummer.

      Aber Bettina hatte damals zu ihr gesagt: »Ich kenne ihn einfach zu gut, Mona. Er ist wie ein älterer Bruder für mich – ich kann mich nicht in ihn verlieben, so gern ich das auch möchte. Schließlich weiß ich, was für ein toller Mann er ist, aber es geht wirklich nicht. Ich glaube, wir haben schon zuviel zusammen erlebt.«

      Ja, das hatten sie in der Tat. Wolf war jetzt vierunddreißig, fünf Jahre älter als Bettina und Mona, die in dieselbe Klasse gegangen war, und er war derjenige gewesen, der sie gegen die anderen Jungen beschützt hatte. Er hatte ihnen das Schwimmen beigebracht, ihre aufgeschlagenen Knie verpflastert und ihnen manchmal sogar Geschichten vorgelesen. Er hatte seinem Vater geholfen, ein Baumhaus für sie zu bauen, und…

      Ach, er war einfach immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatten. Ein richtiger großer Bruder eben, nicht nur für Mona, sondern auch für Bettina. Und dann war er irgendwann, wie Bettina richtig bemerkt hatte, ›ein toller Mann‹ geworden – aber der große Bruder war für sie stärker gewesen.

      Wolf hatte sich wieder der Straße zugewandt, und Mona dachte, wie schade es war, daß Bettina nicht ihre Schwägerin werden würde. Sie verstand beim besten Willen nicht, wie man jemanden wie Jens Banter ihrem Bruder vorziehen konnte, aber so war es nun einmal.

      Wolf war beruflich jetzt sehr erfolgreich, und er hatte sich in den letzten Jahren verändert, auch äußerlich. Groß, schlank und braungebrannt war er, mit vielen hellen Fältchen in den Augenwinkeln. Seine dunklen Haare waren schon immer widerspenstig gewesen und hatten sich nicht ordentlich frisieren lassen wollen – das war noch immer so.

      Das Gesicht war kantiger geworden, und um den Mund hatte er einen Zug, der neu war. Was war das? fragte sie sich. Heimlicher Kummer? Oder seine anstrengende Arbeit? Aber auch das trug dazu bei, ihn interessant wirken zu lassen. Er sah einfach nicht länger wie ein unbedarfter junger Mann aus, sondern wie jemand, der schon einiges erlebt hatte.

      Plötzlich war Mona sehr stolz auf ihren Bruder, und sie stellte sich neben ihn ans Fenster. »Allmählich könnten sie kommen«, meinte sie. »Sie sind ja nun schon eine ganze Weile unterwegs.«

      »Bei dem Wetter brauchen sie länger«, erwiderte er. »Die Sicht ist schlecht, und die Straßen sind rutschig.«

      »Ich hoffe nur«, murmelte sie, »Bettina fährt selbst.«

      »Wieso?« fragte er. »Fährt ihr Freund nicht gut Auto?«

      »Das schon, aber in der Regel zu schnell. Viel zu schnell.«

      *

      Bettina verlor die Beherrschung. »Willst du uns umbringen?« rief sie, als Jens eine weitere Kurve in viel zu hohem Tempo genommen hatte. »Ich möchte gern heil bei Mona ankommen, Jens.«

      »Keine Sorge, das wirst du auch«, sagte er. »Bei Mona und bei Wolf – wolltest du wohl sagen. Denn eigentlich geht’s dir doch hauptsächlich um ein Wiedersehen mit deinem alten Verehrer, oder etwa nicht?«

      Das war’s also! Er war wieder einmal eifersüchtig, deshalb hatte er sich vor der Fahrt Mut angetrunken. Wieso hatte sie das nicht gleich gewußt? Und wieso hatte sie nicht darauf bestanden, selbst zu fahren? Es war schließlich ihr Auto. Aber es war sinnlos, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen.

      »Rede keinen Blödsinn«, sagte sie unwillig. »Ich habe Wolf seit Jahren nicht gesehen, und das weißt du auch. Er hat bestimmt eine Freundin, die er bald heiratet, und kann sich kaum noch an mich erinnern. Und für mich wird er immer wie ein großer Bruder sein.«

      Sie war nicht sicher, ob das wirklich stimmte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jens gegenüber würde sie so etwas ohnehin nicht erwähnen. Er war ja sogar auf die Fliege an der Wand eifersüchtig.

      »Ja, ja«, höhnte er. »Wie ein großer Bruder. Aber er war doch wahnsinnig verknallt in dich – oder hat er dir etwa keine seitenlangen Briefe geschrieben, die du immer noch aufbewahrst?«

      »Ja,