Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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ihm zu widerstehen, aber in letzter Zeit kam es ihr so vor, als sei er öfter schlecht als gut gelaunt. Und trank er nicht auch mehr als früher?

      »Klar hebe ich ein paar Sachen auf«, antwortete er. »Aber nicht einen ganzen Packen von einer einzigen Freundin – so wie du das mit seinen Briefen machst. Und lesen darf ich sie auch nicht, du hast sie ja sogar eingeschlossen.«

      »Es sind Briefe an mich, die gehen dich nichts an«, sagte sie abweisend.

      Er trat das Gaspedal durch. »Ach ja? Sie gehen mich nichts an? Ich dachte immer, wenn man sich liebt, dann hat man keine Geheimnisse voreinander.«

      »Das kann man wohl kaum als Geheimnis bezeichnen«, widersprach sie, während sie sich krampfhaft abstützte, um nicht ständig von einer Seite auf die andere zu rutschen. Die Straße war extrem kurvenreich. »Du weißt schließlich, daß es die Briefe gibt.« Aber ich weiß nicht mehr, ob ich dich wirklich liebe, dachte sie und erschrak sofort über diesen Gedanken. Dabei kam er ihr heute abend nicht zum ersten Mal.

      Er antwortete nicht, denn er hatte alle Mühe, das Auto unter Kontrolle zu halten. Die letzte Kurve war schärfer gewesen, als er gedacht hatte, und der Wagen fing an zu schlingern. Bettina biß sich fest auf die Lippen, um nicht zu schreien, während Jens verzweifelt versuchte, den Wagen auf der Straße zu halten.

      Und dann kam ihnen auf einmal ein Auto entgegen. Dessen Licht blendete sie, es schien direkt vor ihnen zu sein. Bettina wurde auf einmal klar, daß sie auf der falschen Seite der Fahrbahn gelandet waren. Die Hupe des anderen Wagens gellte durch die Nacht, dann riß Jens das Steuer bis zum Anschlag herum, und auf einmal rutschte das Auto völlig weg. Es schlidderte in rasendem Tempo von der Straße auf eine Böschung zu.

      Wie in Zeitlupe sah Bettina Bäume und Sträucher auf sich zukommen. Längst wußte sie, daß alles zu Ende war, aber merkwürdigerweise hatte sie jetzt keine Angst mehr. Sie wollte auch nicht mehr schreien. Alles war auf einmal sehr ruhig, nichts war mehr zu hören. Der Regen schien aufgehört zu haben, und auch der Wind hatte sich wohl gelegt.

      Das Auto stürzte noch immer mit atemberaubender Geschwindigkeit die Böschung hinunter und überschlug sich mehrmals. Aber davon merkte Bettina nichts mehr. Das letzte, was sie wahrnahm, war, daß die unheimliche Stille durchbrochen wurde, als etwas mit einem gräßlichen Geräusch zerbarst. Tausend Messer schnitten sie, dann flog sie davon, mitten hinein in ein tiefschwarzes Loch.

      Schließlich blieb der Wagen auf dem Dach liegen, während seine Räder sich weiter drehten. Er sah aus wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen war und sich aus eigener Kraft nicht wieder umdrehen konnte – doch das fiel in diesem Augenblick niemandem auf, denn es war keiner da, der es hätte sehen können.

      *

      »Schwerer Verkehrsunfall auf einer Landstraße außerhalb der Stadt«, berichtete Oberschwester Walli knapp. »Eine junge Frau ist mit ihrem Wagen von der Fahrbahn abgekommen, das Auto hat sich mehrfach überschlagen, sie ist dabei herausgeschleudert und schwer verletzt worden. Sie hätte fast ein entgegenkommendes Fahrzeug gerammt – der Fahrer hat sofort die Polizei angerufen. Sie bringen sie mit dem Hubschrauber her, das nächstgelegene Krankenhaus ist nicht gut genug ausgerüstet.«

      »Was fehlt ihr?«

      »Ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall hat sie eine schwere Gehirn­erschütterung, überall Schnittwunden, vor allem im Gesicht und an den Armen, mehrere Knochenbrüche – Rückenverletzung nicht ausgeschlossen.«

      »Innere Verletzungen?«

      »Auch, ja.«

      »Wo ist Julia?«

      Die Internistin Dr. Julia Martensen hatte zur Zeit mit Adrian Winter zusammen Dienst, und er war froh darüber. Sie waren ein eingespieltes Team, und bei einem schwierigen Fall erwies sich das als äußerst nützlich.

      »Sie erwartet den Hubschrauber – zusammen mit Bea. Sie müssen eigentlich jeden Moment kommen.«

      Schwester Bea war die jüngste im Team – eine ausgesprochen hübsche, ein wenig vorlaute junge Frau mit kurzen blonden Haaren. Ihre frechen Bemerkungen wurden ihr aber von den anderen in der Regel gern verziehen, weil alle ihre Ehrlichkeit und ihre uneingeschränkte Begeisterung für ihren Beruf zu schätzen wußten.

      Sie hörten den Hubschrauber bereits, und wenige Minuten später wurde die angekündigte Patientin von Dr. Martensen und Schwester Bea eilends in die Notaufnahme gebracht.

      Die Ärztin informierte Adrian rasch, dann begannen sie gemeinsam, die junge Frau gründlich zu untersuchen. »Eine Infusion mit Kochsalz«, kommandierte Adrian. »Außerdem Blutgruppe bestimmen, Blutkonserven bereitstellen und den OP benachrichtigen.«

      Bea verschwand, während Oberschwester Walli die Infusion vorbereitete.

      »Wie heißen Sie?« fragte Adrian die Patientin. Sie war noch keine dreißig, schätzte er. Eine zarte Frau mit feinen Gesichtszügen, hellblonden langen Haaren und aparten grünen Augen. Ob sie schön war, ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennen, denn ihr Gesicht war durch unzählige Schnittwunden entstellt, in denen zum Teil winzige Glassplitter steckten. Ansonsten war ihr Haut unnatürlich blaß, selbst der volle Mund schien blutleer zu sein.

      »Bettina Wördemann«, antwortete sie mühsam.

      »Frau Wördemann, tut es Ihnen irgendwo weh?« fragte er.

      Sie antwortete nicht, stöhnte nur leise.

      »Haben Sie Schmerzen?« wiederholte er.

      »Überall…«

      »Ja, ich weiß«, sagte er rasch. »Aber helfen Sie mir bitte und sagen Sie mir, wo es besonders schlimm ist. Das Gesicht tut Ihnen sicher weh…«

      »Ja«, kam die leise Antwort.

      »Und sonst?« drängte er, während er vorsichtig ihre Glieder abtastete.

      »Der Bauch. Und… das Bein, und… die Schulter…« Sie schloß erschöpft die Augen, öffnete sie aber noch einmal. »Mein Rücken… tut auch weh.«

      »Innere Verletzungen, Julia?« flüsterte Adrian.

      »Die Milz hat etwas abbekommen – sie muß auf jeden Fall sofort operiert werden, Adrian. Und sonst?«

      »Das Bein ist gebrochen, das Schlüsselbein ebenfalls. Der Rücken muß geröntgt werden, und wir müssen die Glassplitter entfernen, die sie überall hat.«

      »Bin ich allein?« fragte die Patientin in diesem Augenblick.

      Adrian beugte sich über sie. »Wie meinen Sie das, Frau Wördemann? Wir sind alle hier, Sie sind nicht allein.«

      »Nein… ich… will wissen… gab es noch… andere Verletzte?«

      »Zum Glück nicht«, antwortete er. »Sie sind mit Ihrem Auto von der Straße abgekommen und eine Böschung hinuntergestürzt. Niemand sonst ist zu Schaden gekommen – nur Sie.«

      Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, und er wartete. Aber dann fielen ihr die Augen zu, ohne daß sie sich noch einmal geäußert hatte.

      Schwester Bea kehrte zurück. »Sie müssen selbst operieren, Herr Dr. Winter«, berichtete sie. »Die Teams sind bis zum Morgen ausgebucht.«

      »Hab’ ich fast erwartet«, murmelte Adrian. »Werden ja schließlich ständig neue Unfallopfer gebracht. Was für eine Höllennacht!«

      »Nur Dr. Roloff steht als Anästhesist zur Verfügung«, berichtete Bea weiter.

      »Wenigstens eine gute Nachricht«, sagte Adrian. Er schätzte seinen älteren Kollegen Werner Roloff sehr. »Wo ist Bernd?«

      »Hier!« meldete sich der Assistenzarzt aus einer anderen Kabine, stand aber gleich darauf neben ihnen.

      »Du mußt mir bei einer Operation assistieren«, ordnete Adrian an. »Hältst du hier die Stellung, Julia?«

      Sie nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Es kann sein, daß ich dir noch ein paar Patienten zum Operieren nach oben schicke