Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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      »Allmählich finde ich es aber doch merkwürdig, daß sie nicht kommen«, sagte Mona und lief unruhig in ihrem Wohnzimmer hin und her. »Bettina ist sonst immer überpünktlich. Und sie hat doch noch angerufen, bevor sie losgefahren sind. So lange können sie überhaupt nicht unterwegs sein, Wolf.«

      Er antwortete nicht sofort, aber sie sah seinem Gesicht an, daß auch er sich Sorgen machte. »Was können wir denn tun?« fragte er schließlich. »Hat sie ein Handy, auf dem wir versuchen können, sie zu erreichen?«

      Mona schüttelte den Kopf. »Dann hätte ich das doch schon längst getan. Oder sie hätte uns benachrichtigt, um uns mitzuteilen, daß sie später kommen.«

      »Ruf noch einmal bei ihr zu Hause an«, bat er. »Vielleicht sind sie umgekehrt, weil das Wetter zu schlimm war.«

      »Ich habe doch vor zehn Minuten erst angerufen, Wolf«, erinnerte sie ihn. »Außerdem ist das Wetter zwar eklig, aber nun auch nicht so, daß man nicht fahren kann, wenn man vorsichtig ist. Wenn ich bloß wüßte, was wir tun sollen. Mir fällt einfach nichts Vernünftiges ein.«

      »Dann warten wir noch eine Weile«, schlug Wolf vor. »Und wenn sie in einer Stunde noch nicht hier sind, fahren wir nach Berlin zu ihrer Wohnung. Vielleicht ist ihnen doch etwas dazwischengekommen.«

      Sie schüttelte den Kopf. »Es muß etwas passiert sein, sonst hätte sie sich gemeldet, Wolf. Du kennst doch Bettina. Sie würde nicht vergessen, uns zu benachrichtigen, schließlich weiß sie, daß wir warten.«

      Das stimmte, und er widersprach seiner Schwester nicht. Er war viel beunruhigter, als er sich anmerken ließ. Die Vorstellung, Bettina könnte etwas passiert sein, war so furchtbar, daß er kaum atmen konnte, wenn er nur daran dachte.

      »Dann bleibt nur noch, die Krankenhäuser der Umgebung anzurufen«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Etwas anderes fällt mir jedenfalls nicht ein. Oder vielleicht würde uns auch die Polizei Auskunft geben.«

      Sie sahen einander an. Wie weggeblasen war die Vorfreude auf den bevorstehenden Besuch. Jetzt hatten sie beide nur noch Angst, und sie versuchten nicht länger, sie voreinander zu verbergen.

      *

      »Achtung, Adrian«, meldete Werner Roloff, noch bevor eines der Geräte einen Warnton von sich gab. Ihm entging nicht die leiseste Veränderung im Zustand seiner Patientin. Niemand war im OP aufmerksamer als der grauhaarige, übergroß wirkende Anästhesist, und das war es, was Adrian so an ihm schätzte.

      »Ein paar Minuten brauche ich noch, Werner«, murmelte Adrian Winter. »Dann kann ich den Bauch wieder schließen. Sie hat wirklich verdammt viel Blut verloren.«

      »Eben«, stellte sein Kollege fest und behielt seine Patientin gewissenhaft im Auge. Bettina Wördemanns Zustand gab durchaus Anlaß zur Besorgnis. Mehr als einmal hatte Dr. Roloff schon leise Warnungen ausgestoßen, aber bisher war es ihm jedesmal gelungen, die Patientin wieder zu stabilisieren.

      »Sie hat trotzdem Glück gehabt, die Verletzung hätte auch bedeutend schlimmer ausfallen können«, meinte Adrian. »Ich bin froh, daß ich die Milz retten konnte.«

      »Und ich bin froh, wenn wir die Patientin retten können«, sagte Werner Roloff, der schon wieder eine der Infusionen korrigierte, weil ihm die Herztätigkeit der jungen Frau Sorgen machte.

      »Natürlich retten wir sie!« sagte Adrian energisch. »Jetzt hat sie so lange durchgehalten – da schafft sie auch noch den Rest!«

      Niemand antwortete ihn, und wenig später erklärte er zufrieden: »So, das hätten wir. Bernd, du kannst nähen. Ich sehe mir dann mal das Bein und die Schulter an. Und danach entfernen wir die Glassplitter und versorgen die übrigen kleinen Wunden.«

      »Tut, was ihr tun müßt«, sagte Werner Roloff, »aber macht es schnell. Diese junge Frau hält nicht mehr allzuviel aus.«

      Seine beiden Kollegen nickten und setzten ihre Arbeit schweigend fort.

      *

      Als Dr. Julia Martensen die beiden Polizeibeamten sah, die etwas zögernd die Notaufnahme betraten, ging sie ihnen entgegen und fragte höflich: »Suchen Sie jemanden? Kann ich Ihnen helfen?«

      Die beiden sahen einander so ähnlich, daß sie fast sicher war, es müßten Brüder sein: beide groß und breit, in den Fünfzigern, mit runden, gutmütigen Gesichtern. Sie zückten ihre Dienstausweise, und sie stellte fest, daß sie sich geirrt hatte. Einer hieß Frentrup, der andere Baier. Also doch keine Brüder.

      Der Beamte namens Baier nickte auf ihre Frage hin und antwortete: »Wir suchen Frau Wördemann – sie soll sich in dieser Klinik befinden.«

      Julia stellte sich nun ihrerseits vor und sagte dann: »Es stimmt, daß Frau Wördemann hier ist – aber sie wird gerade operiert. Sie ist bei dem Unfall schwer verletzt worden. Darf ich fragen, was Sie von ihr wollen?«

      »Es liegt eine Anzeige gegen sie vor – von einem Autofahrer, in dessen Wagen sie fast gerast wäre. Er hat sofort die Polizei alarmiert, als er gesehen hat, wie ihr Auto die Böschung runtergeschossen ist. Wir vermuten, daß die Frau betrunken war«, erklärte der Polizist. Sein Kollege Frentrup stand weiterhin stumm neben ihm. »Sie ist viel zu schnell gefahren, das hat der Zeuge ausgesagt, und die Spuren belegen das auch. Haben Sie eine Blutprobe genommen?«

      »Sicher, wir mußten ja ihre Blutgruppe bestimmen«, antwortete die Ärztin ruhig.

      »Die ist beschlagnahmt«, sagte der Polizist. »Wenn die Frau sich strafbar gemacht hat…«

      Julia hatte nicht die Absicht, sich jetzt auf eine Diskussion einzulassen. »Die Blutprobe ist im Labor, und wir brauchen sie noch«, behauptete sie. »Wie ich schon sagte, ist Frau Wördemann schwer verletzt, und wir haben noch einige Laboruntersuchungen vorzunehmen.«

      Sie log, dabei wußte sie selbst nicht, warum. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, den Alkoholgehalt des Blutes festzustellen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, die junge Frau zu schützen. Sie handelte ganz instinktiv, ohne länger darüber nachzudenken.

      »Wenn Sie einen Straftatbestand verschleiern wollen, machen Sie sich selbst strafbar, das wissen Sie hoffentlich«, begann der Beamte drohend. Offenbar wollte er noch mehr sagen, aber er kam nicht weiter, denn überraschend machte sein Kollege jetzt den Mund auf.

      »Der Alkoholgehalt im Blut muß so schnell wie möglich bestimmt werden«, sagte er ruhig. »Sorgen Sie bitte dafür, daß wir diese Untersuchung durchführen können. Wann wird Frau Wördemann vernehmungsfähig sein?«

      »Frühestens morgen abend«, antwortete Julia. »Und das auch nur, wenn die Operation ohne Komplikationen verläuft.«

      »Was heißt das?« erkundigte er sich. »Ist es auch möglich, daß sie… also, daß sie die Operation nicht überlebt?«

      »Ja, das ist möglich.« Julia sah die beiden mit festem Blick an, bis sie begriffen hatten, daß sie hier im Augenblick nicht weiterkommen würden.

      Um ihnen den Abgang zu erleichtern, sagte sie: »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe zu tun. Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Oder kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?«

      »Nein danke, wir kommen später wieder. Und vergessen Sie die Blutprobe nicht.« Sie drehten sich um und strebten dem Ausgang der Notaufnahme zu.

      Julia konnte sich ihr Verhalten selbst nicht erklären. Wenn Bettina Wördemann getrunken hatte und durch zu schnelles Fahren nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr gebracht hatte, dann war es nur richtig, sie dafür zu bestrafen. Aber Julia glaubte einfach nicht, daß es so war, und das fand sie selbst erstaunlich. Schließlich kannte sie die Patientin überhaupt nicht und konnte gar nicht beurteilen, ob ihr Fahren unter Alkohol­einfluß zuzutrauen war oder nicht.

      Schwester Bea kam aufgeregt angelaufen. »Bitte, kommen Sie schnell, Frau Dr. Martensen. In Kabine fünf liegt ein kleiner Junge mit einer schrecklichen Kopfverletzung.«

      Sie folgte der jungen Frau, und zumindest für den Moment vergaß