gewußt hätte.
Sie bewegte ihren Kopf ein wenig, die Hände zuckten unruhig.
Er berührte ihren Arm und sagte leise: »Frau Wördemann? Frau Wördemann!«
Die Augenlider flatterten, doch sie hoben sich nicht. Er lehnte sich zurück und wartete weiter. Irgendwann war er wohl auch für ein paar Minuten eingeschlafen, denn plötzlich schreckte er auf und stellte fest, daß über eine halbe Stunde vergangen war, seit er zuletzt auf die Uhr gesehen hatte.
Die Patientin lag da wie vorher, aber ihre Lider flatterten auch jetzt. »Frau Wördemann!« sagte er. »Ich glaube, Sie können mich hören.«
»Ja«, antwortete sie, doch ihre Augen waren noch geschlossen.
Er griff nach ihrer Hand und sagte: »Das ist gut. Wollen Sie mich nicht ansehen? Ich bin Dr. Adrian Winter und sitze schon ziemlich lange an Ihrem Bett.«
Tatsächlich öffnete sie die Augen, und unwillkürlich dachte er: Was für eine wunderbare Farbe! Sie waren grün, das hatte er bereits in der Notaufnahme festgestellt, als sie eingeliefert worden war. Aber er hatte nicht bemerkt, wie intensiv dieses Grün war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Augen gesehen zu haben, die eine solche Farbe hatten.
»Wer?« fragte sie mit schwacher Stimme.
»Dr. Adrian Winter«, antwortete er. »Ich bin Chirurg in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Sie hatten einen Unfall, können Sie sich daran erinnern?«
»Nein«, sagte sie. »Wo?«
Er erklärte es ihr, und sie schien nachzudenken. Da er auf eine Erklärung hoffte, fügte er hinzu: »Sie sind offenbar viel zu schnell gefahren – und das bei diesem schrecklichen Wetter. Wissen Sie das auch nicht mehr?«
Ihr Gesichtsausdruck war jetzt sehr konzentriert, das Nachdenken fiel ihr schwer. Kein Wunder, dachte Adrian, das waren die Nachwirkungen der Narkose. Sie würde ziemlich schnell wieder einschlafen.
»Ich bin gefahren?« fragte sie unsicher.
»Ja, das sind Sie«, antwortete er und wunderte sich. Das mußte sie eigentlich noch wissen. Bei retrograder Amnesie erinnerten sich die Patienten bis zum Zeitpunkt des Unfalls an alles – dann erst gab es den ›Filmriß‹. Wieso war das bei Frau Wördemann anders?
»Sie waren allein im Auto«, erklärte er noch einmal. »Als sich der Wagen überschlagen hat, sind Sie herausgeschleudert worden.«
Wieder dachte sie nach und fragte dann: »Wurden noch andere verletzt?«
»Sie meinen, ob in den Unfall noch andere Autos verwickelt waren?« fragte er.
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur an. Er hielt das für die Bestätigung, daß sie danach gefragt hatte. »Nein, nur Sie«, antwortete er. »Sie sind allerdings nur knapp an einem anderen Wagen vorbeigerast, der Ihnen entgegenkam. Wir haben uns gefragt, warum Sie so schnell gefahren sind. Sie wußten doch sicher, wie gefährlich das war.«
Wieder wartete er, und dann fiel ihm plötzlich auf, daß es schon das zweite Mal war, daß sie fragte, ob noch jemand verletzt worden sei.
»Ich bin so müde«, murmelte sie und schlief wieder ein. Nachdenklich betrachtete er sie. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, daß sie diese Frage zweimal gestellt hatte. Es sprach sogar für sie, daß sie wissen wollte, ob ihre Raserei Opfer gefordert hatte. Es konnte aber auch sein, daß etwas anderes dahintersteckte.
Er würde Julia davon erzählen. Sie hatte schließlich als erste von einem merkwürdigen Gefühl gesprochen. Er blieb noch ein paar Minuten an Bettina Wördemanns Bett sitzen, dann stand er auf und verließ das Zimmer. Er mußte dringend ein paar Stunden schlafen, falls auch die folgende Nacht so anstrengend werden sollte wie die vergangene.
Doch bevor er ging, machte er sich auf die Suche nach dem Stationsarzt. Als er ihn gefunden hatte, sagte er: »Sie ist kurz aufgewacht.«
»Gut«, erwiderte der andere. »Dann gehen Sie also jetzt nach Hause.«
»Ja, aber ich wollte Ihnen noch mitteilen, daß vermutlich die Polizei kommen wird, um mit Frau Wördemann zu sprechen. Sie können den Beamten sagen, daß wir die Blutprobe untersucht haben. Keinerlei Alkohol. Null Prozent.«
»Das werden sie überprüfen wollen.«
»Können sie gern machen«, sagte Adrian, »wenn sie uns nicht glauben. Auf Wiedersehen.«
»Schlafen Sie gut, Herr Winter.«
»Ganz bestimmt«, versicherte Adrian und eilte davon.
*
Als Jens Banter bei seinem Freund Michael Kestner klingelte, war es früher Morgen. Es dauerte ziemlich lange, bis ihm geöffnet wurde. Michael, ein großer Blonder mit langen Haaren, war nackt bis auf ein Handtuch, das er sich um die Hüfte geschlungen hatte. »Verdammt noch mal, was ist denn los?« knurrte er und erkannte erst dann, wer vor seiner Tür stand.
»Jens!« rief er. »Wie siehst du denn aus?«
Die Frage war berechtigt, denn Jens war von oben bis unten verdreckt. Außerdem blutete er aus einer Wunde am Kopf, das verlieh seinem Aussehen zusätzlich etwas Dramatisches.
Daß er so dreckig war, war kein Wunder, aber das konnte Michael nicht wissen. Schließlich hatte Jens bei strömendem Regen aus einem umgekippten Auto klettern müssen. Wie durch ein Wunder war er fast völlig unverletzt geblieben bei dem Unfall, wenn man von der Kopfwunde einmal absah. Aber er war, als er das Auto endlich verlassen hatte, mehrfach hingefallen und sah entsprechend aus. Er konnte von Glück sprechen, daß er nach langem Warten jemanden gefunden hatte, der bereit gewesen war, ihn mit nach Berlin zu nehmen. Dem Mann hatte er eine abenteuerliche Geschichte erzählt, die dieser offenbar geglaubt hatte.
Zuvor war Jens allerdings ein paar Kilometer zu Fuß gelaufen, um sich weit genug von der Unfallstelle zu entfernen. Schließlich wollte er damit nicht in Verbindung gebracht werden.
Bettina war aus dem Auto geschleudert worden, sie hatte sich nicht mehr bewegt, als er sich über sie gebeugt hatte. Er war sicher, daß er ihr ohnehin nicht mehr hätte helfen können. Warum also hätte er an Ort und Stelle bleiben sollen? Ihr schadete es nicht mehr, wenn er versuchte, seine eigene Haut zu retten.
Mittlerweile war er fast wieder nüchtern, aber doch noch nicht ganz. »Laß mich ’rein!« bat er. »Ich erklär’s dir dann.«
Michael nickte, ließ ihn eintreten und sagte: »Aber zieh die Klamotten sofort aus und versau mir nicht die ganze Wohnung. Am besten gehst du ins Bad. Ich koch sofort Kaffee, du siehst aus, als könntest du einen brauchen. Und ich brauch’ auch einen.«
Jens nickte nur und schlurfte ins Bad. Dort ließ er seine dreckigen Sachen auf einen Haufen fallen und stellte sich unter die heiße Dusche. Anschließend begutachtete er die Wunde an seinem Kopf und beschloß, daß ein Pflaster genügen würde. Er zog einen von Michaels Bademänteln an und ging in die Küche.
Sein Freund saß schon am Tisch und schlürfte seinen Kaffee. »Also?« fragte er. »Was ist passiert? Hattest du ’ne Schlägerei?«
»Nee, ’n Unfall«, antwortete Jens unwillig. Sein markantes Gesicht hatte einen verkniffenen Ausdruck. Am besten wäre es sicher, wenn er die Geschichte niemandem erzählte. Andererseits brannte er darauf, sie loszuwerden. Je nüchterner er wurde, desto klarer wurde ihm, daß er vielleicht etwas falsch gemacht hatte.
Was er dringend brauchte, war jemand, der ihn beruhigte und auf seiner Seite stand. Michael war ein guter Kumpel. Er würde ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Was solltest du anderes tun? Das war schon richtig so, du hättest ja doch nichts mehr ändern können.«
Zögernd begann er zu erzählen, wobei er es vermied, den Freund anzusehen. Es war sehr still in der Küche, als er seinen Bericht beendet hatte.
»Bist du völlig verrückt geworden?« polterte Michael los. »Du fährst besoffen Auto, baust einen Unfall, bei dem deine Freundin ums Leben gekommen ist, und haust einfach ab? Was hast du dir denn dabei gedacht?«