das war klar. Sollte ich dort sitzenbleiben und auf die Polizei warten? Die hätten mich gleich festgenommen – und dann? Das hätte Bettina auch nicht wieder…« Unvermittelt brach er ab. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er den Tod seiner Freundin verschuldet hatte. Er hatte Bettina getötet!
Bleich starrte er in seine Kaffeetasse. »Verdammt!« murmelte er. »Mußt du es mir noch schwerer machen, als es sowieso schon ist?«
»Du hast dich strafbar gemacht, Jens«, sagte Michael mit erzwungener Ruhe. »Das ist Fahrerflucht – und ich wette, die Umstände, unter denen du abgehauen bist, machen das Ganze nur noch schlimmer. Was hast du dir denn gedacht, wie das jetzt weitergeht? Irgendwer wird aussagen, daß sie nicht allein im Auto war.«
»Uns hat niemand gesehen!« begehrte Jens auf.
»Wo wolltet ihr denn hin?«
»Zu ihrer Freundin Mona – übers Wochenende«, antwortete Jens.
»Und die wußte nicht, daß ihr zu zweit kommen wolltet?« fragte sein Freund.
»Doch«, gab Jens zu, »aber ich kann sagen, daß wir uns gestritten haben und ich deshalb zu Hause geblieben bin. Das kann niemand nachprüfen.«
»Dann sieh zu, daß du schleunigst nach Hause kommst – da wird nämlich ziemlich bald die Polizei auftauchen, schätze ich. Wenn sie nicht schon da ist. Und dann überleg dir mal eine gute Erklärung für deine Kopfwunde.«
Jens kämpfte mit aufsteigender Panik. »Ich gehe nicht nach Hause!« sagte er. »Kann ich nicht hierbleiben, Mike? Ich kann doch gestern zu dir gekommen sein. Wir haben den Abend zusammen verbracht, und ich habe hier geschlafen. Mensch, du bist mein bester Freund…«
»Aber ich bin nicht dazu da, um dir ein falsches Alibi zu verschaffen«, erklärte Michael so erregt, daß Jens jegliche Hoffnung auf seine Unterstützung aufgab. »Was glaubst du eigentlich, worum es hier geht? Du hast dich strafbar gemacht, und das in mehr als einer Hinsicht. Und du hast deine Freundin auf dem Gewissen – macht dir das überhaupt nichts aus? Was bist du denn für ein Mensch?«
Jens war unter den Vorwürfen zusammengesackt wie ein Häufchen Elend. »Aber es hilft doch jetzt niemandem mehr, wenn ich mich stelle«, sagte er kläglich. »Nur ist mein Leben dann auch noch kaputt. Willst du das?«
Michael beantwortete diese Frage nicht. »Hast du dich überzeugt, daß Bettina wirklich tot ist?« fragte er. »Oder hast du dich vielleicht auch noch wegen unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht?«
Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, aber das hätte Jens nie im Leben zugegeben. Er war zu ihr gestolpert, hatte ihren Namen gerufen und sie angefaßt. Sie hatte nicht geantwortet, und ihr Körper war so weich und nachgiebig gewesen, daß er in Panik davongerannt war. Sie hatte nicht mehr gelebt – ganz sicher nicht.
»Sie war tot!« sagte er so heftig, daß sein Freund auf weitere Nachfragen verzichtete.
Plötzlich fing Jens an zu weinen. Er schämte sich seiner Tränen, aber er schaffte es nicht, sie zurückzuhalten. Je mehr der Alkoholnebel in seinem Kopf verflog, desto klarer wurde ihm, wie groß die Tragödie dieser Nacht war. So groß, daß sie sein ganzes weiteres Leben überschatten würde.
Michael hatte Jens beobachtet und festgestellt, daß er offenbar allmählich begriff, was geschehen war. Vielleicht war er so betrunken gewesen, daß sich das strafmildernd auswirken würde. Denn bestraft werden würde er, daran bestand kein Zweifel. Es sei denn, er entzog sich tatsächlich einem Prozeß, indem er log. Und wollte er selbst derjenige sein, der über seinen Freund zu Gericht saß?
»Ich gebe dir kein falsches Alibi«, wiederholte er. »Aber vielleicht bin ich bereit zu vergessen, was ich weiß. Wenn du sofort von hier verschwindest, halte ich meinen Mund. Aber versuch ja nicht, mich noch einmal in diese Sache mit hineinzuziehen, Jens. Ich mache mich schon strafbar dadurch, daß ich dich nicht verrate, das weißt du ganz genau.«
»Du schickst mich also weg.« Jens machte ein Gesicht wie ein geprügelter Hund, aber Michael blieb hart.
»Ja«, sagte er entschieden. »Ich schicke dich weg. Und erzähl mir bloß nicht, wohin du als nächstes gehst. Ich will es nämlich ganz bestimmt nicht wissen.«
*
Wolf schlief nicht sehr lange, bevor er wieder aufwachte. Zunächst hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren, dann fiel ihm ein, daß er bei Mona war. Sie hatten auf Besuch gewartet – und dann war er mit einem Mal hellwach. Bettina war verunglückt, und noch immer wußte er nicht, was ihr passiert war. Wie schwer waren ihre Verletzungen? Hatte sie die Nacht überlebt?
Ganz ruhig lag er in seinem Bett, während er auf die ungewohnten Geräusche um sich herum lauschte. In der Küche summte leise der Kühlschrank, eine Holzdiele knackte, in einer Wasserleitung gurgelte es. Draußen war es ruhiger geworden, aber der Regen rauschte immer noch mächtig.
Er blieb liegen und versuchte nachzudenken. Er wollte so schnell wie möglich wissen, was mit Bettina war, und das bedeutete, er mußte erneut bei den Krankenhäusern anrufen. Er hatte bereits eine Liste gemacht und auch angekreuzt, wo er schon überall versucht hatte, aber das war ja bisher ergebnislos gewesen. Niemand hatte ihm definitiv sagen können, daß Bettina nicht eingeliefert worden war.
Er sah auf die Uhr, es war halb sechs Uhr morgens. Ob es Sinn hatte, es jetzt schon zu probieren? Oder fand gerade der Schichtwechsel statt? Er wußte es nicht. Aber dann kam ihm die Idee, noch einmal das Polizeirevier anzurufen. Vielleicht hatten sie eine Möglichkeit, den Hubschrauberpiloten ausfindig zu machen. Der würde ja wissen, wohin er geflogen war.
Es sei denn, dachte Wolf resignierend, seine Einsätze waren so zahlreich, daß er sich nicht an Einzelfälle erinnern kann. Normalerweise hätte man ihn schon gestern abend fragen sollen, aber das Durcheinander war einfach zu groß gewesen.
Leise stand er auf. Er ging in den Flur und lauschte, aber von Mona war nichts zu hören, sie war also offenbar wirklich eingeschlafen. Er schlich zurück und schloß die Tür hinter sich. Auf keinen Fall wollte er sie wecken. Aber er konnte nicht länger tatenlos hier herumstehen. Er mußte etwas tun, vielleicht könnte er Mona bereits mit einem Ergebnis überraschen, wenn sie aufwachen würde.
Hastig zog er sich an, nahm sich das Telefon und begann zu wählen.
*
Adrian schlich müde die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Er hätte eigentlich längst in seinem Bett liegen sollen, aber dadurch, daß er noch bei Bettina Wördemann gewesen war, hatte er sich erheblich verspätet. Zu seinem größten Erstaunen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung, und Carola Senftleben streckte vorsichtig ihren Kopf heraus.
»Frau Senftleben!« rief Adrian. »Sind Sie etwa wieder krank? Oder warum sind Sie um diese Zeit schon wach?«
Carola Senftleben war Ende sechzig, und sie hatte vor kurzem eine schwere Grippe überstanden, von der sie sich nur langsam erholte. Normalerweise liebte sie es, die Nacht zum Tage zu machen – jedenfalls verschlief sie in der Regel den halben Vormittag. Es war eindeutig zu früh für sie.
»Das sind alles noch Nachwirkungen von dieser Grippe«, antwortete sie unwillig. »Ich habe meinen alten Rhythmus noch nicht wiedergefunden, Adrian. Außerdem hat mich dieser blöde Wind wachgehalten. Und die ganze Nacht Sirenen – da kann man ja nicht zur Ruhe kommen.«
»Haben Sie etwa überhaupt nicht geschlafen?« fragte er.
»Nicht eine Minute«, antwortete sie. »Ich war noch gar nicht im Bett. Und dann habe ich mir gedacht, wenn ich höre, daß Sie von Ihrem Nachtdienst nach Hause kommen, könnten wir vielleicht zusammen frühstücken. Danach gehe ich dann gleich schlafen.«
Er konnte nicht anders, er mußte lachen. »Sie sind wirklich unbezahlbar, Frau Senftleben.«
»Das will ich auch hoffen«, sagte sie, aber ihre Stimme klang schon heiterer. »Also los, kommen Sie endlich und erzählen Sie mir, was sich ereignet hat.«
Er folgte ihr in ihre schöne Wohnküche, wo der Tisch bereits gedeckt war. »Sogar Brötchen«, staunte er.