Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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lächelte, aber es war ein so schmerzliches Lächeln, daß es ihr ins Herz schnitt. »Selbst wenn sie das begreifen sollte, wird sie nicht plötzlich mich lieben, Mona. Du weißt doch, was ich für sie bin: Ein großer Bruder.«

      »Ja, ich weiß. Aber Gefühle können sich ändern. Und manchmal ist man einfach auch nur blind und täuscht sich über das, was man wirklich empfindet.« Sie stand auf. »Ich mache Frühstück, während du weitertelefonierst, ja?«

      Er nickte. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, daß er einen Bissen herunterbringen würde, aber zumindest einen Kaffee könnte er jetzt vertragen. Der Tag würde anstrengend werden, und schließlich hatte er kaum geschlafen.

      *

      Jens Banter atmete auf. Er hatte die Stadt ohne jede Schwierigkeit verlassen. Niemand war ihm gefolgt, keiner von seinen Nachbarn hatte ihn gesehen. Wenn er später behauptete, schon vor dem Zeitpunkt des Unfalls abgefahren zu sein, würde ihm niemand das Gegenteil nachweisen können. Zumindest hoffte er das. Er erinnerte sich, daß er etwas zu Bettina gesagt hatte während ihres Telefongesprächs mit Mona. Das war kurz vor ihrer Abfahrt gewesen. Aber wenn schon: Im Notfall stand dann eben Aussage gegen Aussage.

      Jetzt jedenfalls war er zuerst einmal gerettet und fuhr in seinem alten Auto Richtung Ostsee. Die Anspannung der letzten Nacht fiel von ihm ab. Allerdings tat sie das nicht gänzlich. Denn je weniger er gezwungen war, darüber nachzudenken, was er tun mußte, um seine eigene Haut zu retten, desto mehr drängten sich die Gedanken an Bettina in den Vordergrund.

      Sie war tot, und er war für ihren Tod verantwortlich, das wußte er, auch wenn er es niemals zugeben würde. Doch es war hieran nicht zu rütteln. Mit diesem Wissen würde er nun leben müssen, und er hoffte, daß er das konnte. Aber wieder stellte er sich die Frage, die er auch schon seinem Freund Michael gestellt hatte: Wem war damit gedient, wenn er sich jetzt der Polizei stellte? Niemandem! Bettina wurde dadurch nicht wieder lebendig, und sein Leben wäre in diesem Fall mit Sicherheit ebenso zerstört. Denn wenn alle wußten, was er getan hatte, brauchte er nicht länger darauf zu hoffen, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Nicht einmal einen Job würde er noch finden.

      Aber eigentlich wollte er auch gar keinen Job. Er arbeitete nicht gern, und wenn er genug Geld gehabt hätte, um davon zu leben, wäre Arbeit für ihn überhaupt kein Thema gewesen. Das kleine Vermögen, das er von seinen Großeltern geerbt hatte, war leider schon fast verbraucht. Er würde sich also bald nach einer Verdienstmöglichkeit umsehen müssen.

      Er biß sich heftig auf die Lippen. Bettina war Lehrerin gewesen – nicht reich, aber sie hatte Geld genug gehabt. Für ihn war das sehr praktisch gewesen, denn sie hatte oft für ihn mitbezahlt. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, würden seine mageren Mittel noch schneller erschöpft sein.

      Nicht, daß er einzig wegen des Geldes mit Bettina zusammengewesen war. Er hatte sie wirklich gern gehabt, so gern, wie er überhaupt jemanden haben konnte. Aber die Wahrheit war, daß ihm kein Mensch jemals so nahegestanden hatte wie er sich selbst. Für ihn war er selbst die wichtigste Person auf dieser Welt, und daran würde sich auch niemals etwas ändern.

      Er fuhr vorsichtig an diesem Morgen, denn im nachhinein hatte er durchaus begriffen, daß er durch seine Fahrweise am vergangenen Abend auch sein eigenes Leben in Gefahr gebracht hatte. Das würde ihm so schnell nicht wieder passieren.

      Als er ein Schild sah, das bereits eines der Ostseebäder ankündigte, hellte sich seine Miene auf. Vielleicht ging ja doch alles gut, und es kam niemand auf die Idee, auch nur nach ihm zu suchen.

      *

      Sie hatten gefrühstückt, aber es war nur eine kurze Mahlzeit gewesen, und sie hatten sie in bedrücktem Schweigen eingenommen. Wolf hatte ohnehin nur Kaffee getrunken. Mona hatte sich dazu gezwungen, wenigstens eine Scheibe Brot zu essen. Schon nach wenigen Minuten war er wieder aufgesprungen, hatte entschuldigend gesagt: »Ich hab’ einfach keine Ruhe, Mona, ich mach’ weiter, ja?« und war im Wohnzimmer verschwunden.

      Von dort hörte Mona ihn jetzt telefonieren. Es war schon wieder ziemlich viel Zeit vergangen, und sie fragte sich, wann es ihnen wohl endlich gelingen würde, Bettina ausfindig zu machen. Es war wie verhext.

      Und dann auf einmal merkte sie an Wolfs Stimme, daß etwas anders war als bisher. Sie lief ins Wohnzimmer und hörte ihn gerade noch fragen: »Aber sie lebt? Sie lebt ganz bestimmt?« Danach hörte er noch eine Weile zu, und wenig später legte er auf.

      »Wo ist sie?« fragte Mona.

      »In der Kurfürsten-Klinik. Sie ist dort heute nacht operiert worden und liegt jetzt auf der Intensiv­station. Wir können frühestens heute abend zu ihr, vorher lassen sie uns auf keinen Fall mit ihr sprechen. Aber sie lebt, Mona! Sie lebt – und offenbar ist sie auch nicht mehr in akuter Gefahr.«

      »Mit wem hast du denn gesprochen?«

      »Mit dem Stationsarzt auf der Intensivstation, der war sehr nett, obwohl ich ihm gesagt habe, daß ich kein Verwandter bin. Aber weil sie auf dem Weg zu uns war, als es passiert ist, hat er wohl eine Ausnahme gemacht.«

      Mona ließ sich auf das Sofa sinken. Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß ihre ganze Kraft sie verließ. Ihre Beine wurden weich, und ein trockenes Schluchzen saß ihr in der Kehle. Die Anspannung und die Angst der letzten Stunden machten sich nun bemerkbar. »Sie lebt also«, sagte sie leise. »Ist sie schwer verletzt?«

      Er nickte bedrückt. »Mehrere Brüche, die Milz war angerissen, eine schwere Gehirnerschütterung – und irgend etwas mit ihrem Gedächtnis scheint auch nicht in Ordnung zu sein. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Offenbar ist es normal, daß sie sich an den Unfall selbst nicht erinnern kann, aber was vorher war, müßte sie eigentlich noch wissen. Sie warten auf die Polizei, die wollen sie vernehmen, sobald sie richtig wach ist. Jetzt schläft sie noch, die Narkose wirkt noch nach. Sie ist aber schon einmal kurz wach gewesen.«

      »Die Polizei?« fragte Mona erschrocken. »Was will denn die Polizei von ihr?«

      »Sie ist gerast wie eine Verrückte und hat jemand anders gefährdet«, antwortete Wolf.

      »Bettina ist garantiert nicht gerast«, entgegnete Mona kopfschüttelnd. »Das halte ich für Unsinn. Was ist mit Jens?«

      »Jens war nicht dabei, ich habe nach ihm gefragt. Sie hat allein im Auto gesessen.«

      »Aber…«, begann Mona, doch ihr Bruder unterbrach sie.

      »Ich weiß, was du sagen willst. Ich wiederhole nur, welche Auskunft ich bekommen habe. Wir können Bettina heute abend ja selbst fragen, wie es zu dem Unfall gekommen ist.«

      »Aber wenn sie sich doch nicht daran erinnern kann?«

      »Vielleicht tut sie ja nur so«, meinte Wolf nachdenklich.

      *

      Adrian wachte schon sehr früh am Nachmittag wieder auf, und er wußte auch sofort, warum. Bettina Wördemann war es, die ihn beschäftigte. Er wollte unbedingt noch einmal mit ihr reden, bevor die Polizei es tat. Und das bedeutete, er mußte sofort wieder in die Klinik fahren, damit er Zeit genug für dieses Gespräch hatte, bevor sein Nachtdienst begann.

      Eilig stand er auf, duschte und rasierte sich und kochte sich eine große Kanne Kaffee. Zum Glück machte es ihm nicht allzu viel aus, wenn er einmal zu wenig Schlaf bekam. Kurz darauf machte er sich bereits auf den Weg.

      Er sah das Polizeiauto sofort und pfiff ärgerlich vor sich hin. Waren sie ihm etwa doch zuvorgekommen? Er lief in die Notaufnahme, aber natürlich war von den Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm zusammen Dienst hatten, noch niemand da, es war ja auch noch viel zu früh.

      Er rief auf der Intensivstation an und erkundigte sich, ob Bettina Wördemann bereits vernommen worden sei, erhielt aber eine beruhigende Auskunft. »Keine Sorge, Herr Dr. Winter. Frau Wördemann schläft noch immer fast die ganze Zeit, wir haben niemanden zu ihr gelassen«, sagte der Stationsarzt. »Wir haben die Beamten auf heute abend vertröstet, sie sind wahrscheinlich einen Kaffee trinken gegangen, deshalb steht das Auto noch unten. Sie sind ein wenig mißtrauisch uns gegenüber, als versuchten wir, eine Straftat