Adrian. »Und bitte, sprechen Sie mit Ihrer Freundin über den Unfall. Ich hatte den Eindruck, daß sie uns etwas Wichtiges verschweigt, aber ich kann mich natürlich auch täuschen. Und wenn Sie etwas herausfinden, dann lassen Sie es mich doch bitte wissen. Ich mache mir Sorgen um Frau Wördemann.«
»Vielen Dank«, sagte Wolf, als er dem Arzt zum Abschied die Hand gab, »daß Sie so offen mit uns gesprochen haben, Herr Dr. Winter.«
Auch Mona drückte Adrian die Hand, und er sagte: »Viel Glück!«
*
Bettina schlief immer wieder ein, aber sie war zwischendurch jetzt auch länger wach. Doch es fiel ihr schwer, richtig nachzudenken. Ihr Kopf tat weh, und auch sonst spürte sie ihren Körper schmerzhaft. Es war unangenehm, so ruhig zu liegen und bei allem, was man tun wollte, auf andere Menschen angewiesen zu sein. Aber daran war wohl nichts zu ändern.
Am meisten beunruhigte sie die Sache mit Jens. Mittlerweile hatte sie auch eine Erklärung für das vermeintliche Rätsel seines Verschwindens gefunden: Jens war gar nicht verschwunden, sondern er war so schwer verletzt, daß man sie schonen und es ihr zunächst verschweigen wollte.
Sie wollte jedoch gar nicht geschont werden, sondern endlich die Wahrheit wissen. Aber sie scheute davor zurück, einfach zu fragen, denn immerhin war es ja doch möglich, daß er weggelaufen war, und dann würde sie ihn durch ihre Fragen in große Schwierigkeiten bringen.
War er weggelaufen? Sie konnte das einfach nicht glauben. Sicher, sie hatte mittlerweile einsehen müssen, daß er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Aber sie konnte sich dennoch nicht vorstellen, daß er es fertiggebracht hätte, seine schwerverletzte Freundin nach einem Unfall, den er verschuldet hatte, einfach liegenzulassen und abzuhauen…
Oder? Sie kam zu keinem Ergebnis. Es erschien ihr wie ein Verrat, daß sie die Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog.
Es klopfte leise, und gleich darauf sagte Monas Stimme: »Bettina! Was bin ich froh, dich zu sehen.«
Ihr Gesicht mit den funkelnden Augen, in denen Tränen hingen, kam näher, und sie gab ihrer Freundin einen vorsichtigen Kuß auf die Nasenspitze.
»Mona«, murmelte Bettina. »Tut mir leid…«
Mona lachte, es klang fast hysterisch. »Was tut dir denn leid? Bist du verrückt? Mir tut es leid, daß du hier liegst – und…«
»Hallo, Bettina«, sagte nun eine Männerstimme, und Bettinas Herz machte einen verrückten kleinen Satz.
»Wolf«, war alles, was sie herausbrachte. Da stand er nun an ihrem Bett, der Jugendfreund, der ihr immer wie ein Bruder erschienen war. Sein gut geschnittenes Gesicht war ernst, die dunklen Augen hatte er voller Sorge und Angst auf sie gerichtet. Hatte er immer so gut ausgesehen? Früher hatte sie das nie bemerkt, Wolf hatte zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehört, er war eine Selbstverständlichkeit für sie gewesen. Aber jetzt hatte sie ihn lange nicht gesehen. Er hatte sich verändert, das merkte sie sofort.
»Hallo, Wolf«, sagte sie stockend. »Du bist also auch da.«
»Ja«, bestätigte er, und sein Gesicht wurde weich. »Ich bin auch da. Und ich bin froh, daß du diesen Unfall überlebt hast, Bettina.«
»Ich konnte euch leider nicht benachrichtigen«, sagte Bettina undeutlich. »Bin heute erst aufgewacht – die haben mich hier operiert.«
Mona weinte jetzt. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?« fragte sie.
»Ich – ich weiß nicht«, antwortete Bettina unsicher. »Was ist denn mit meinem Gesicht? Ich habe seit dem Unfall noch nicht in einen Spiegel gesehen, und ich hatte bisher auch noch keinen Grund…«
»Vergiß es«, sagte Mona hastig. »Du hast ein paar Kratzer abbekommen, das ist alles.«
Bevor Bettina das Thema vertiefen konnte, fragte Wolf: »War Jens bei dir, als ihr abgefahren seid, Bettina? So, wie es geplant war?«
Sie wollte schon ja sagen, aber im letzten Augenblick hielt sie sich zurück. »Wieso fragst du? Alle fragen immer nach Jens.« Sie hatte damit seine Frage nicht beantwortet, aber sie hoffte, daß er ihr nun trotzdem etwas sagen würde, aus dem sie Rückschlüsse darauf ziehen konnte, was tatsächlich passiert war.
Wolf tat ihr den Gefallen nicht, aber Mona fing an zu reden. »Alle sagen, du warst allein im Auto, Bettina. Wieso war Jens nicht bei dir? Wir verstehen das nicht. Als wir telefoniert haben, hat er doch neben dir gestanden, und du hast gesagt, ihr würdet jetzt gleich losfahren. Wieso ist er dann doch nicht mitgefahren?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Bettina begriff, daß sie nun die Antwort auf ihre nicht gestellten Fragen bekommen hatte: Jens war tatsächlich nach dem Unfall geflohen. Er hatte sie, die Frau, die er angeblich liebte, schwer verletzt liegenlassen und war einfach geflohen.
Sie schluckte, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Das war mehr, als sie verkraften konnte. Nicht genug damit, daß sie bei einem Unfall, den sie nicht verschuldet hatte, schwer verletzt worden war – nein, sie war auch noch im Stich gelassen worden von dem Menschen, der ihr eigentlich am nächsten stehen sollte. Und dieser Mensch hatte zudem versucht, auf diese Weise die Schuld auf sie zu lenken.
Sie sah zwei Augenpaare, die fragend auf sie gerichtet waren, und sagte hastig: »Ich… ich kann mich nicht daran erinnern, tut mir leid. Die Ärzte und die Polizei haben mich auch schon gefragt, ob ich wirklich selbst gefahren bin, aber ich weiß nichts mehr davon.«
Mona sah so aus, als wollte sie etwas sagen, aber Wolf legte ihr eine Hand auf den Arm und erklärte ruhig: »Ist ja auch nicht so wesentlich im Augenblick, Bettina. Wichtig ist jetzt nur, daß du wieder gesund wirst. Sollen wir dir etwas bringen? Brauchst du etwas?«
Sie war so erleichtert, daß er keine weiteren Fragen stellte und durch seine Sätze auch Mona daran hinderte, welche zu stellen, daß sie um ein Haar doch noch in Tränen ausgebrochen wäre. »Nein, danke, ich kann mich ja sowieso nicht bewegen. Aber… ihr kommt doch noch mal wieder und besucht mich?«
»Dumme Liese!« sagte Mona zärtlich. »Jeden Tag kommen wir, was hast du denn gedacht?« Sie gab Bettina erneut einen Kuß auf die Nasenspitze. »Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Wolf sagte nichts, er sah sie nur an und strich ihr dann mit einer schnellen, liebevollen Geste übers Haar. Im nächsten Augenblick war Bettina wieder allein.
Sie schloß die Augen und sehnte sich danach einzuschlafen. Sie war doch bisher ständig müde gewesen, warum also schlief sie jetzt nicht ein? Doch je mehr sie sich das wünschte, desto wacher wurde sie. Ihre Gedanken überschlugen sich, aber es gab eigentlich nur eine einzige wirklich wichtige Erkenntnis: Jens war bei dem Unfall gar nicht verletzt worden, und er hatte es deshalb vorgezogen, sie im Stich zu lassen.
*
»Sie lügt«, stellte Wolf ruhig und bestimmt fest. »Sie lügt, um ihn zu schützen.«
Doch seine Schwester wehrte sich noch immer gegen seine Schlußfolgerungen aus Bettinas Verhalten. »Das glaube ich einfach nicht, Wolf. Jens würde so nicht handeln, und Bettina würde ihn auf diese Weise nicht decken.«
»Aus Liebe tut man manches«, widersprach er, und seine Stimme klang bitter und völlig hoffnungslos.
»Sag das nicht!« bat sie. »Ich glaube nicht, daß sie Jens immer noch geliebt hat. Am Anfang vielleicht, aber schon seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, daß ihr auffällt, wie sehr er sie ausnutzt.«
»Und warum deckt sie ihn dann? Was er gemacht hat, ist verbrecherisch, Mona, verstehst du das? Er hat eine schwerverletzte Frau ohne Hilfe in einem Unwetter liegenlassen. Und vorher hat er, wahrscheinlich betrunken, den Unfall, bei dem sie verletzt worden ist, selbst verursacht. Sie muß ihn wirklich lieben, sonst würde sie nicht versuchen, ihn zu schützen.«
»Nicht so eilig!« Mona wurde heftig. »Sie hatte einen sehr schweren Unfall und ist gerade erst operiert worden, Wolf, sie kann doch kaum über die Sache nachgedacht haben. Wenn es tatsächlich stimmt, daß Jens am Steuer gesessen